Text und Regie: Peter Stamer

Darstellerin: Eva Brunner

Uraufgeführt am 26. September 2020 in der Szene Salzburg im Rahmen des Akademischen Wirtshauses

Was wäre, wenn Sie jetzt nicht auf diesem Stuhl gelandet wären? Was wäre, wenn Sie stattdessen auf dem Stuhl säßen, auf dem ihr Nachbar gerade sitzt? Was wäre, wenn Sie sich nun selbst zum ersten Mal mit den Augen eines anderen, einer anderen, einer anderen Person sehen würden, wie Sie so da sitzen, so vor sich hindenkend, sich die Haare richtend, sich das Kinn kratzend, die Beine übereinanderschlagend, mit den Fingern trommelnd …., sich fragend, was der heutige Abend alles zu bieten hat oder warum sie vielleicht besser zuhause hätten bleiben sollen oder warum die Frau mit den roten Schuhen diese merkwürdigen Fragen stellt, oder, oder, oder? Was wäre dann, wenn Sie, die Sie sich zum ersten Mal mit den Augen Ihres Sitznachbarn betrachten, erkennen würden, dass Sie nicht der Mensch sind, der Sie immer dachten zu sein? Was wäre, wenn Sie und ihr Selbstbild, das sie jahrelang von sich hatten, nicht übereinstimmten? Wenn Sie stattdessen ein anderer Mensch wären, ein besserer, bewussterer, vollkommenerer, aktiverer, sensiblerer, verantwortungsbereiterer, aufgeschlossenerer? Und was wäre, wenn Sie heute Abend deshalb hierhergekommen wären, um sich einmal genau so zu sehen?

Und was wäre, wenn das alles nur eine Vorstellung wäre? Quasi eine Erfindung, eine Geschichte, told by an idiot? Wenn es das hier alles gar nicht wirklich gäbe? Wenn wir hier nur Theater machten, eine Zauberei betrieben? Was wäre, wenn ich einen Zylinder aufhätte, ihn mir abnähme, eine große Geste machte, auf drei zählte, dann bedeutungsschwanger ins Publikum schaute und dann schnippte? Was ist, wenn nach meinem Schnippen noch immer alles so ist wie vorher, wenn nichts passiert ist? Wenn nichts geschehen ist, mein Schnippen nichts verändert hat, wurscht ist, so wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in China oder das Seufzen der Bienen in Niederösterreich oder das Husten einer Hyäne in der Savanne?

3-2-1. Was wäre, wenn es keine Zeit gäbe? Wenn die Zukunft heute schon begonnen hätte, ohne dass wir es merkten? Was, wenn gestern heute eben nicht morgen gewesen wäre oder morgen heute nicht gestern gewesen sein wird, sondern es kein Morgen mehr gäbe? Was, wenn Heute nämlich bereits Morgen wäre und wir nichts mehr hätten, wovor wir Angst haben müssten oder worauf wir uns freuen könnten? Was wäre, wenn alles, alles, alles so bliebe wie es jetzt, in diesem Moment ist? Das Licht, der Raum, die Temperatur, ihr Hunger, seine Müdigkeit, Sie?

Was wäre, wenn wir hier die letzten Menschen auf dieser Erde wären? Wenn wir, hier und jetzt davon erführen, dass wir wirklich die letzten Menschen auf dieser Erde wären? Was, wenn alle, die heute Abend nicht hier, mit uns, sind, die sonst mit uns am Anton-Neumayr-Platz, in Salzburg, in Salzburg-Land, in Österreich, in Europa, mit uns auf der Welt leben, jetzt tot, einfach nicht mehr da wären? Was, wenn wir von nun an die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft wären? Was, wenn wir uns mit diesem Wissen noch einmal in die Augen schauten und nachdenken müssten, wie es jetzt weitergeht, wie wir damit umgehen? Was, wenn wir uns überlegen müssten, wer welche Aufgaben zu übernehmen hätte, wer fürs Essen sorgt, wer für Wasser, wer für Hygiene, wer für Trost, für Wärme, fürs Schlafen zuständig ist? Was, wenn die Dinge des Lebens damit plötzlich Dinge des Überlebens würden? Und was, wenn wir uns nicht einig werden könnten? Was wäre, wenn es kein wir gäbe, sondern nur ein Ich und noch ein Ich und immer wieder nur noch ein Ich?

Was, wenn die wenigen Ressourcen, die uns hier und jetzt zur Verfügung stehen, dann immer knapper würden und wir in zwei, drei Tagen feststellen müssten, dass wir leider nicht alle von uns am Leben erhalten könnten? Was, wenn wir entscheiden müssten, wer von uns fast 100 Menschen hier etwas zu trinken bekommt und wer nicht, wer etwas zu essen bekommt und wer nicht, wer Medikamente, Versorgung, Zuspruch, Unterstützung, Hilfe bekommt und wer nicht? Was, wenn wir das Essen überhaupt nur für 50 Menschen reicht, oder für 10 oder gar nur für 3? Was, wenn die Verantwortung für die Verteilung in den Händen von 50, von 10 oder gar nur von 3 läge? Was wäre, wenn drei von uns allen, Sie und Sie und ich vielleicht, eine Waffe, eine Pistole, ein Gewehr oder eine Armbrust hätten? Was, wenn Sie und Sie und Sie einfach nur ihr Leben und das jener, die Ihnen nahe stehen, verteidigen und erhalten wollten? Was, wenn Sie oder Sie oder Sie alleine bestimmen würden, wer hier aus dieser Gruppe Ihnen nahe steht und wer nicht? Und was, wenn Sie oder Sie oder Sie nicht zu jener Gruppe gehörten? Was ist , wenn daher niemand Ihre Hilferufe erhört, wenn niemand für sie da ist, weder der liebe Gott noch der ÖAMTC, noch der Mann mit dem Gewehr oder die Ärztin, die heute Abend hier auf der Verkehrsinsel sitzt, noch Ihre Mutter, nach der Sie in der Stunde Ihres Todes rufen?

Was wäre, wenn Sie sich, hier und jetzt, auf die Stunde Ihres Todes vorbereiten könnten? Wenn Sie lernen könnten, wie man stirbt? Was, wenn wir Sterben üben könnten, wenn es Schulen des Sterbens geben würde? Und was wäre, wenn es Schulen des Lebens gäbe? Was, wenn unsere Schulen uns endlich beibringen würden, wie man lebt? Was, wenn die Kindergärten, Schulhorte, Internate, Universitäten, die Akademien und Konserveratorien, aber auch die Theater,

Kinos, Museen, Stadtgalerien, die Zeitungen, Broschüren und Flugblätter, sämtliche Radiostationen, Irren-, Bedürfnis- und Fernsehanstalten, Wissenschaftsverlage, alle Stadtverwaltungen und Regierungseinrichtungen, die Forst-, Wirtschafts-, Finanz- und auch die Technologieministerien, der Internationale Gerichtshof, das österreichische Verfassungsgericht, das Land- und Amtsgericht und auch das Europaparlament, alle Kommissionen und Ausschüsse des Bundeskanzleramtes wie auch das Kanzleramt selbst, die Immobilien- und Gemeindebau-verwaltungen, die Aktiengesellschaften, Sparvereine und Raiffeisenorganisationen, Deutsche-, Post- oder Sparkassenbank einschließlich der Weltbank, das Bundesheer, die Panzerfahrer-, Kampfschwimmer- und Minenräumbataillone, die Verkehrspolizei, die Fremdenpolize, die Staatspolizei, ja, vor allem die, auch die Gefängnisse, Strafkolonien und Lager, youtube, instagram, facebook, tic toc oder amazon, wenn also das gesamte öffentliche Leben mit nichts Anderem beschäftigt wäre, als uns beizubringen, wie wir das Leben bejahen, umarmen, feiern, leben können, an jedem Tag, zu jeder Stunde, in jeder Sekunde, immer? Was aber, wenn wir uns nicht auf solche Schulen verlassen können und daher die Verantwortung nun selbst übernehmen müssen, wenn wir es in die Hand nähmen, die richtigen Fragen zu stellen?

Was wäre, wenn wir, die 99%, die von einem Prozent regiert werden, das uns ausbeutet, das uns mit seinem Geld beherrscht, wenn wir uns einfach mal unserer Macht bewusst werden würden? Was, wenn wir uns einfach mal darin einig wären, was zu tun ist? Was, wenn wir den Tyrannen des Geldes, der Zerstörung, der Politik unsere Unterstützung versagten, uns von ihnen abwendeten und sie dann dabei beobachteten, wie sie in sich zusammenbrächen und vom Sockel stürzten? Was wäre, wenn wir uns einfach mal dazu aufrafften?

Was ist, wenn mich dein Leben genauso beschäftigt würde wie mein Leben? Was, wenn mich das Leben jedes Lebewesens, jeder Pflanze, jedes Viechs, jedes Menschen auf diesem Planeten, jedes einzelnen der bald 8 Milliarden Menschen direkt betrifft? Wenn mich das Ableben jedes einzelnen betroffen macht, wie mich mein eigenes betroffen macht? Was ist, wenn ich mit der gleichen Sorgfalt, Umsicht und Fürsorge mich um dein Wohlergehen kümmere wie um meines? Was ist, wenn du und du und du mir und dir und dir, wenn also wir uns etwas bedeuten?

Und was ist, wenn Sie heute Abend genau deshalb hierhergekommen sind?

Und was, wenn wir anfangen?