In a fictional penal colony, a high-ranking officer (performed by Frank Willens) demonstrates to the visitors how the punishment machine of the colony operates: it is designed to execute the delinquent by carving the death sentence onto his body until he is dead. The officer squeezes himself into the death apparatus in order to convince the visitors about the flawless beauty of the machine’s functioning. Yet the apparatus malfunctions and stabs the officer to death, without having imprinted one single letter on his flesh… Peter Stamer’s staging merges Kafka’s unsettling parabel on legislation, justice, technological power and morality with the suggestive force of the theatre apparatus. Taking on the imagination of the spectators, submitting them to an impressive, yet daunting theatrical setting, the project renders Kafka’s horror vision more than conceivable…
In summer 2019, director Peter Stamer created a theatre solo for dancer and actor Frank Willens based on this famous text within the architectural machinery of Mumok (the grand museum of contemporary art of Vienna). Serving as the “penal colony“, the bombastic grey basalt stone architecture was turned into another protagonist with vertiginous heights and breathtaking abysms.
Seit fast einer Dekade dominieren wirkmächtige Krisendiskurse die europäischen Zivilgesellschaften. Man scheint die derzeitigen Veränderungen, wie sie sich ökonomisch und sozial abzeichnen, als bedrohend für die eigene Identität zu empfinden. Die daraus resultierenden Angstrhetoriken erschüttern unmittelbar die demokratische Kultur, in welcher Prinzipien des agonistischen Pluralismus’, der Toleranz gegenüber Anderen und der öffentlichen Streitfähigkeit zunehmend von Rufen nach autoritärer Führung und charismatischen Anführern abgelöst werden. Von einer irrationalen Zukunftsangst angetrieben, scheinen plötzlich wieder disziplinierende Maßnahmen en vogue zu werden, in welchen Forderungen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe oder nach Menschenabschiebungen auf außer-europäische Inseln zu einer massiven Einschränkung von Menschenrechten zu führen drohen. Der Darsteller beschreibt aus der Perspektive des erzählenden Offiziers die Arbeitsweise einer Exekutionsmaschine, die mit feinen Nadeln in den Körper des Hinzurichtenden buchstäblich dessen Todesurteil schreiben soll. Um dem Publikum ihre Funktion zu demonstrieren, legt sich der Offizier jedoch selbst in die Maschine. Diese gerät jedoch außer Kontrolle und zerquetscht den Offizier, noch bevor auch nur ein Buchstabe geschrieben wurde. Kafkas verstörender Text, eine 1914 unter dem Eindruck des auf-ziehenden Weltkriegs entstandene Parabel über Gesetz, Gerechtigkeit, Technikmacht und Moral, wird in dieser Inszenierung mit dem Theaterapparat enggeführt und führt diesen an die Grenzen der Darstellbarkeit. Es ist die Imaginationskraft in den Köpfen der Besucher, die als Augenzeugen dieser theatralen Demonstration beiwohnen, gepaart mit der besonderen Architektur des Aufführungsraumes, welche die Kafka’sche Horrorvision vorstellbar werden lassen.
„Großartig das komplexe, subversive Konzept, die beinahe spektakuläre Umsetzung und die eindringliche Darstellung von Frank Willens, tief berührend ob der drastischen Metaphorik, der perfektionistischen Kälte, der bedrohlichen anorganisch-mechanistisch-technisierten Nekrophilie, Und äußerst aktuell. Ein weiteres hoch politisches Stück bei ImPulsTanz.“ Rando Hannemann, tanz.at
“Peter Stamer’s narrative-led performance, In the Penal Colony, takes Franz Kafka’s unsettling parable, with the same title, as a point of departure to stage a physically intense, disturbing, and affectively unsettling performance. It brings Kafka’s cruel visual images of the most extreme bodily practice of dressage, a brutal torture process, to life.” Lisa Moravec, thetheatretimes.com
Based on the eponymous text by Franz Kafka // Direction, text adaptation, scenography: Peter Stamer // Performer: Frank Willens // Machine Operator: Zoran Docmanovič // Dramaturgical and visual support: Ilya Noé // Produced by Impulstanz Vienna 2019 // Presented at MUMOK Vienna
ÜBER-MASCHINE. Überlegungen zu Kafkas Strafkolonie
Die Exekutionsmaschine
Auf einer außerhalb Europas liegenden Strafkolonie ist ein Forschungsreisender dazu eingeladen, der Exekution eines Soldaten beizuwohnen. Der Reisende ist Mitglied eines supranationalen europäischen Komitees, das das Rechtsgebaren der Strafkolonie untersucht. Kafkas Erzählung setzt in jenem Moment ein, als der für die Ausführung des Urteils zuständige Offizier dem Reisenden die Abfolge der Hinrichtung erklärt. Wir erfahren, dass der Verurteilte wegen Ungehorsams gegenüber seinem Vorgesetzten zum Tode verurteilt wurde. Zu diesem Zwecke soll er nun auf der Pritsche einer überlebensgroßen vollautomatischen Exekutionsmaschine festgespannt werden, damit die Egge auf ihn niederfahren kann, um mit vielen feinen Nadeln das Urteil ‚Ehre deinen Vorgesetzten’ auf Körper und Kopf zu schreiben. Die Bewegungen der Egge, so führt der Offizier weiter aus, werden dabei von dem sogenannten Zeichner gesteuert. Eine Handzeichnung, auf welcher das besagte Urteil mit vielen kalligrafischen Verschnörkelungen geschrieben steht, setzt diesen Mechanismus in Gang und lässt die Schreibenadeln buchstabengetreu in den Körper eindringen. Die Exekution würde bis zu zwölf Stunden dauern, erfahren wir, in deren Verlauf die Egge den Körper immer wieder dreht, um das Urteil auf immer neue, noch unbeschriebene Stellen zu stanzen. Der Todeskandidat würde erst dadurch das Verdikt, den Grund seiner Hinrichtung, erfahren, wenn es buchstäblich auf seinem Leib geschrieben steht und er sich dieses selbst von seinem mit Schreibmalen übersäten Körper ablesen kann. Dann hebt der Stachel der Egge den sterbenden Körper hoch und wirft ihn in eine zuvor ausgehobene Grube.
Die Exekution verläuft allerdings nicht nach Plan. Da sich nach Ansicht des Offiziers der Todeskandidat nicht als der raffinierten Maschine würdig erweist, bindet ihn der Offizier los. In Ehrfurcht vor der Erfindungsgabe des von ihm verehrten alten Kommandanten, dem Konstrukteur der Maschine, will der Offizier das Exempel an sich selbst statuieren, um dem Forschungsreisenden die Eleganz des Apparats zu demonstrieren. Er führt die Handzeichnung mit der Schrift ‚Sei gerecht’ in den Schlitz des Zeichners ein, zwängt sich selbst in die Apparatur und setzt die Maschine in Gang. Diese aber gerät außer Kontrolle und zerquetscht den Offizier, noch bevor auch nur ein Buchstabe geschrieben wurde.
Die im Oktober 1914 fertig gestellte und 1919 veröffentlichte Erzählung gehört zum Verstörendsten, was Franz Kafka je geschrieben hat. In Entstehungszeit wie auch vielen Aspekten inhaltlich eng verbunden mit seinem Roman Der Process variiert Kafka auch In der Strafkolonie die Fragen von Recht und Rechtsetzung, von Bürokratie und Freiheit, von Ohnmacht und Willkür, und mischt dieser mit dem Exekutionsapparat noch eine technologische Komponente bei, die das Menschenleben gänzlich dem mechanischen Verfahren einer Maschine unterwirft. Zu dem unverrückbaren, normativen gesellschaftlichen Rechtssystem, welchem Josef K. in Der Process hilflos ausgeliefert ist oder den Disziplinarmaßnahmen der patriachalischen Familie, wie sie in Die Verwandlung (1912) die Hauptfigur zur zertretungswürdigen Kreatur eines Käfers transformiert, tritt nun ein Bestrafungsdispositiv, das in Form einer mechanischen Apparatur total über Leben und Tod des Menschen verfügt. Neben das Gewohnheitsrecht der familiären Repression und den willkürlichen Gerichtsverfügungen, welche das Individuum einzig als Gefangenen eines übermächtigen Systems bestimmt, tritt bei In der Strafkolonie als drittes das Aufschreibesystem (Friedrich Kittler) einer überdimensionierten Schreibmaschine, die den Gesetzestext buchstäblich auf den Körper einstanzt – eindrücklicher kann man das Subjekt in seinem Zustand als subjectum, als Unterworfenes, nicht beschreiben. Es gibt in diesen sozialen, juridischen oder technizistischen Dispositiven, wie sie Kafka so systematisch beschreibt, keinen noch so winzigen Grad an Freiheit oder die kleinste Chance zur Selbstermächtigung, so dass man die Texte als hellsichtige Visionen einer düsteren Welt, die nichts anderes als ein Gefängnis ist, bezeichnen muss. Wie immer man versucht ist, Kafkas Texte von seinen Tagebucheintragungen oder den Oktavheften her, denen er sich anvertraut hat, als private Alpträume eines psychopathischen Angsthasen zu interpretieren: man zielt vorbei. Die Erzählungen und Romane sind vielmehr schonungslose, schneidende Analysen der gegebenen Verhältnisse, deren ungerechte Gewalteinschreibungen sie benennen und aufdecken. Eben nicht die oberflächliche Frage nach der persönlichen Schuld oder Unschuld des (Rechts-)Subjekts bestimmt das Schreiben Kafkas, sondern die in die Ver-hältnisse eingelassenen sozialen ‚Spiele’ der Machtausübung und die ubiquitäre Penetration des Individuums durch vorhandene, übermächtige ‚strukturelle Gewalt’.
Die Gesetzesmaschine
Das gilt im Besonderen für In der Strafkolonie. Man kann hier von einer umfassenden Rationalisierung von Gewalt und Macht sprechen. Staatsgewalt kondensiert sich im Gesetzestext und regelt damit den sozialen Verkehr durch die Setzung von Rechtsnormen. Deren Vernünftigkeit und damit Letztbegründungsanspruch muss entweder auf ein göttliches Wesen bezogen werden oder, als überpositives Recht, auf eine an die Stelle von Gott tretende, übergeordnete moralische Instanz, welche mit dem Naturrecht legitimiert wird. Das Menschenrecht auf ein würdiges Leben beispielsweise ist lediglich eine sich auf ein angenommenes Vernunftrecht beziehende Vereinbarung gegründet, die als ‚Ratio’ außerhalb der Rechts-normen stehen muss. Das Gefühl der Ohnmacht nun angesichts eines recht-setzenden und eben nicht rechtsprechenden Systems, welches die Prota-gonisten in Kafkas Literatur überfällt und letzten Endes vernichtet, ist nun nicht der Willkür von Obrigkeit geschuldet, sondern reicht strukturell viel tiefer, dorthin, wo die Helden der Erzählungen erkennen müssen, dass der sogenannte common sense, der gesunde Menschenverstand, nach welchem im Alltag moralisch richtige Entscheidungen getroffen werden sollen, ebenfalls nur ein Produkt dieses Ins-Recht-Setzen einer Rechtsinstanz ist und sich keineswegs auf ein sich außerhalb der Gesetzesnormen bewegendes Rechtsgefühl stützen kann.
Das ist die Ausweglosigkeit der Kafka’schen Figuren, das ist das viel zitierte ‚Kafkaeske’, dass es keine menschliche Bezugsgröße in der dem Individuum zugestandenen Rechtsauffassung gibt, die sich als gerecht bewähren könnte, weil Gerechtigkeit nur eine juridische Setzung, nicht aber ein dem Menschsein innewohnende Verständlichkeit ist. Dass Kategorien wie Mitleid, Gnade oder Empathie in einem solchen Rechtsgefüge nichts bewirken können, steht außer Frage. Der Alptraum Kafkas Schreiben ist nicht, Gerechtigkeit in einem ungerechten System zu finden und daran zu scheitern, sondern das Eingeständnis, diese Suche als ein vorneherein hoffnungsloses Unterfangen rationalisieren zu müssen.
Es gibt in diesem System keine Erlösung. In der Strafkolonie wird dem Delinquenten bei seiner Hinrichtung warmer Reisbrei in eine Vorrichtung geschüttet, welchen dieser, wie ein Hund, mit der Zunge herausschlabbert. Er empfängt Befehle und folgt den Anweisungen, er akzeptiert das Urteil und streckt seinen Hals dem Henker hin, auf dass dieser ihn hinrichte. Fast ist man versucht, das Wort ‚widerstandslos’ hinzuzufügen, aber wogegen sollte sich der Widerstand in einer Welt richten, die genauso eingerichtet ist, in der das Recht auf diese Weise rationalisiert und als rational, als vernünftig erachtet wird? Der Mensch ist in seiner ihm eigenen Existenz nichts Anderes als jener Käfer, der den Namen Gregor Samsa trägt. Und die eigentliche Erkenntnis ist dabei nicht, dass sich ein Mensch in einen Käfer verwandeln könnte, sondern dass der Käfer die Wahnvorstellung hat, Mensch zu sein.
Die Kriegsmaschine
Laut Augenzeugenberichten sind bei einer ersten Lesung der Erzählung im November 1916 in München einige der Zuhörerinnen in Ohnmacht gefallen. Was jedoch im Nachhinein, im Wissen um den bereits seit zwei Jahren im mörderischen Stellungskampf verharrenden Weltkrieg, überrascht, da doch bereits in den ersten Monaten nach Kriegsausbruch die Armeen in den Gräben von Flandern oder der Somme stecken bleiben, sich Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen und sich gegenseitig brutal abschlachten. Das Blutgericht des Grabenkriegs bestätigt auf das Schrecklichste, was Kafka in seinen Erzählungen immer wieder thematisiert: dass das Leben eines Menschen nicht mehr wert ist als das eines mickrigen Käfers. Aufgespießt von den Bajonetten der Gewehre, aufgeschlitzt im Stacheldraht der Laufgräben, die Eingeweide herausgerissen, verblutend im Schlamm. Es ist nicht, dass Kafka dies alles in der Strafkolonieerzählung vorhergesehen hätte, er ist kein Prophet des Krieges oder der Grausamkeit; er ist, und vielleicht ist das viel beunruhigender, ein genau beschreibender Sekretär, eine Aufschreibinstanz jener Rationalisierung, welche den Menschen dieser totalen Kriegsmaschinerie unterwirft. Diese Kriegsmaschine arbeitet Hand in Hand mit der Gesetzesmaschine, von den europäischen Parlamenten ins Recht gesetzt, und der Familienmaschine, welche Sohn um Sohn dem Schlachtfeld zuführt, um dort zwischen den ausgreifenden Fingern der Langen Berta (bezeichnend, dass diese Kanonen, Mütter des Todes, Frauennamen tragen), käfergleich zerrieben zu werden. Der Krieg 14/18 ist bereits ein totaler, weil er die nationalen Rationalisierungen von Verteidigung und Angriff, die Verteidigung von Kultur und Zivilisation als vernünftig bezeichnet und mit der Rationalisierung der Maschinen koppelt. Deren Granatenwerfer, Kanonen, Geschütze, Gewehre, Panzer perforieren das Schlachtfeld, dringen in die Körper ein und schreiben im Grunde immer und immer wieder das selbe Gebot in den umgepflügten Schlamm und die Leichen, jenes, das Kafka in dem Strafkolonietext für den delinquenten Soldaten vorgesehen hat: ehre Deinen Vorgesetzten, stirb im Namen des Volkes, und wie in der Strafkolonie fallen ohne Gerichtsurteil die Verkündigung des Urteils mit dessen todbringender Vollstreckung in eins.
Die Lochkartenmaschine
Was diese Maschinen aber zuallererst so effizient in ihrer Planung und Umsetzung macht, ist die ihr zugrunde liegende statistische Mechanisierung, die Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Einsatz der Lochkartenmaschine aufkommt. Die zum ersten Mal mögliche flächendeckende Aushebung von Daten (das ist tatsächlich das Wort, das hierfür verwendet wird: Daten werden ausgehoben wie ein Loch, das gegraben wird) über die Bevölkerung liefert die allumfassende Grundlage, Massen von Menschenleben in Zahlen, Menschen in statistische Ereignisse zu verwandeln. Der US-amerikanische Erfinder, Herman Hollerith, steuert mit der Erfindung der Lochkartenmaschine einen entscheidenden Beitrag dazu bei. Aufbauend auf dem Steuerungsmechanismus von industriellen Webstühlen entwickelt Hollerith einen Apparat zur Erfassung von Informationen auf Lochkarten, welchen er dem US-Verteidigungsministerium zur statistischen Sammlung von Krankheitsfällen in der Bevölkerung anbietet, um auf diese Weise den Wehrzustand der Männer ermitteln zu können. Das Verfahren war so solide, dass es Jahre später vom amerikanischen Zensusbüro für die Volkszählung eingesetzt wurde, womit dessen Datenverwertung nicht nur zuverlässiger, sondern auch um mehr als die Hälfte der Zeit beschleunigt wurde.
Das Prinzip der Lochkartenmaschine oder auch Hollerithmaschine ist einfach: auf einer Lochkarte werden verschiedene Felder für den jeweilig zu erfassenden Datensatz definiert (wie z.B. Geschlecht, Krankheiten oder Wohnort), und an der jeweiligen Stelle stanzt der Datenerfasser ein Loch. Da die Lochkarten alle die gleiche Größe und Feldordnungen aufweisen, kann die Tabelliermaschine, auf das entsprechende Lochkartensystem eingestellt, die jeweiligen Datenereignisse zählen. Die Maschine erleichtert dabei nicht nur das quantitative Zählen von z.B. Wehrtüchtigen, sondern hilft auch, Besonderheiten wie Größe, Gewicht oder andere, für die Vorbereitung eines Krieges wichtige Merkmale zu ermitteln. Neben die quantitative Datenerhebung tritt damit auch eine qualitative Auswertungsmöglichkeit, wodurch der erfasste Mensch statistisch komplexer verarbeitet werden kann.
Bei der Betrachtung der Funktionsweise und Anwendung der Lochkartenmaschine vereinen sich wie unter dem Brennglas der Geschichte alle wesentlichen Schritte der industriellen Mechanisierung und Rationalisierung, die seitdem die unwiderrufliche Enthumanisierung und Entzauberung der Welt angestoßen haben. Von der mechanischen Steuerung des Webstuhls, welcher Arbeit der menschlichen Hand entwendete und der Maschine überantwortete, führte die Entwicklung mit der lochkartengesteuerten Datenerfassung zur Komprimierung von Leben auf statistische Vorkommnisse. Was sich heute im sogenannten Informationszeitalter in der Logik des Bits und der Bytes noch immer am Prinzip des Computings zeigen lässt, wonach Informationen auf eine Kette von anliegenden oder nicht anliegenden Stromimpulsen heruntergebrochen werden können (0/1), findet im System der Lochkarte seinen nicht nur automatisierten Anfang.
Die Stanzung perforiert an genau der Stelle ein Loch, wo auf der Karte ein spezifisches Lebensmerkmal zu verzeichnen ist. So wie ein Schreibtischlocher Akten zur Abheftung vorbereitet, erfolgt die Markierung damit durch ein Herauszwicken. Das Lebensmerkmal wird somit durch eine Auslöschung markiert, an die Stelle des Ereignisses, das es zu markieren gilt, tritt damit ein Loch, ein Nichts. Je mehr Ereignisse oder spezifische Besonderheiten eines Individuums es zu verzeichnen gibt, umso mehr Löcher weist die Zählkarte auf, sie wird wie ein Sieb umso mehr durch-löchert, je mehr Leben einem Mensch widerfährt. Mit der Zählkarte verhält es sich, wie Hollerith an einer Stelle formulierte, wie bei der chemischen Entwicklung eines Portraitfotos, jeder Entwicklungsschritt bringt ein wei-teres Detail hervor, bis am Ende ein vollständiges Bild des Menschen vor-liegt. Der Wunsch, in einen Menschen zu blicken, ihn zu durchblicken, ihn vollkommen transparent zu machen: in der Lochkarte wird er materiales Ereignis; ein Menschenleben wird zum jederzeit einsichtigen, automatisch abrufbaren Datensatz.
Man kann davon ausgehen, dass die Lochkartenmaschine im Vorfeld des Ersten Weltkriegs genauso zur Wehrerfassung eingesetzt wurde, wie sie in den Vereinigten Staaten Verwendung fand. Ein auf einem Streifen Karton minimiertes und zur statistischen Größe operationabel gemachtes Leben, durchschaubar, durchrationalisiert, auf die Logik von 0 (= Merkmal vorhanden) und Nicht-0 (= keine besonderen Merkmale) reduziert, verwandelt den Menschen in schieres, an den Gräben der Front einsetzbares Menschenmaterial. Auf die mechanische Durchlöcherung folgt zwangsläufig der bereits statistisch einkalkulierte Tod. Wie anders sind die endlosen Kohorten an Mannschaften und Männern zu erklären, die von den Militärstatistikern des Generalstabs Tag für Tag an die Front geschickt wurden, um dort abgeschlachtet zu werden?
Die kryptografische Maschine
Einer solchen Hollerith-Maschine ist Kafka im Rahmen seines Jura-Studiums tatsächlich begegnet. Im Sommersemester 1905 besuchte Kafka an der Deutschen Universität Prag eine Vorlesung zur ‚Deutschen und Österreichischen Statistik’ des österreichischen Juristen und Statistikers Heinrich Rauchberg. Rauchberg hatte die Hollerith-Zählmaschine bereits für die österreichisch-ungarische Volkszählung 1890 eingesetzt und war ein großer Befürworter dieser technischen Apparatur. Dadurch war Kafka also mit Mechanik und Funktion der Maschine vertraut, er wird ihr sicherlich auch in seiner späteren Arbeit als Versicherungsangestellter begegnet sein. Denn sichert sich nicht auch eine Versicherung gegen die statistischen Risiken ihrer Versicherungsnehmer ab, indem sie möglichst effizient das risiko-behaftete Menschenleben durchleuchtet und dessen Gefährdung rational abzuwägen versucht?
Kafkas Tötungs- und Foltermaschine der Strafkolonie, die aus Bett, Egge und Zeichner, aus Zahnrädern, Treibriemen und Blutabflussrinnen besteht, ist damit so etwas wie ein literarischer Nachbau einer solchen Lochkartenmaschine. Allerdings nimmt Kafka entscheidende Umbauten an ihr vor. Er setzt kurzerhand Lochkarte und Menschenleben in eins, indem er die ‚software’, die Zeichnung, auf welcher das Urteil geschrieben steht und mit welcher die Maschine gefüttert wird, unmittelbar und ohne papierene Umwege auf die ‚wetware’ des Körpers einschreibt. Der Körper aus Blutverästelungen, Gewebe, Faserntextur ist das Material, in welches Löcher gestanzt werden, so lange, bis der Körper nicht mehr als Körper beschrieben werden kann – es gibt am Ende der Schreibprozedur weder eine freie Stelle auf der Körperhaut, auf die noch geschrieben werden könnte, noch ist am Ende ein Körper übrig, für den die Beschreibung ‚Körper’ zuträfe. Er ist am Ende nurmehr ein aufgeschlitzter Hautsack, übersät mit Schriftornamenten und kalligrafischen Arabesken, eine einzige blutende Hieroglyphe.
Während die Hollerith-Lochkarten-Maschine für statistische Transparenz des Menschen sorgen soll, modifiziert Kafka diese zu einem Kryptographen, der den Menschen bis zur Unerkennbarkeit überschreibt. Dabei erfolgt die Kryptografierung des Körpers doppelt: einerseits als Texträtsel, welches der Delinquent erst im Laufe der Zeit auf seinem Körper entziffern kann, andererseits als eine zwölf Stunden dauernde Beschriftungsfolter, die unweigerlich in die Grube, die Gruft, in die Krypta führt. Der Kryptograf ist damit immer beides, ein Lese- und ein Schreibapparat des Todes.
Die Inszenierungsmaschine
„Now, have a look at this apparatus. Up to this point I had to do some work by hand, but from now on the apparatus should work entirely on its own. Of course, break-downs do happen. I really hope none will occur today, but we must be prepared for it. The apparatus is supposed to keep going for twelve hours without interruption. But if any breakdowns do occur, they’ll only be very minor, and we’ll deal with them right away …“
Im Bühnenraum der Maschine, diesem szenischen Maschinenraum der Aufführung adressiert der Darsteller die Besucher sowohl als Zuschauer wie auch als innerhalb des dramatischen Textes angesprochene Augenzeugen. In der besonderen Erzählstruktur des ‚dialogischen Monologs’, welche Kafkas Erzählung prägt, richtet sich die Figur des Offiziers immer wieder an den Forschungsreisenden, um seine Geschichte in einem Frage-Antwort-Spiel weitertreiben zu können. In der Einrichtung des Textes als Theatermonolog wird diese rhetorische Strategie beibehalten, die Fragen des Offiziers lassen sich aber gleichzeitig immer auch auf den inneren und äußeren Spielrahmen beziehen, auf den Zuschauer als Besucher wie auch auf den Zuschauer als angesprochene Figur. An einer Stelle sagt der Offizier zum Beispiel:
„However, I’m chattering. As you see, the apparatus consists of three parts. With the passage of time certain popular names have been developed for each of these parts. The one underneath is called the bed, the upper one is called the inscriber, and here in the middle, this moving part is called the harrow. Yes, the harrow. The name fits. The needles are arranged as in a harrow, and the whole thing is driven like a harrow, although it stays in one place and is, in principle, much more artistic. You’ll understand in a moment.“
Über diese Adressierungen wird immer wieder Spannung erzeugt, indem wichtige Ereignisse zwar angekündigt („You will understand in a moment“), aber zeitlich immer aufgeschoben werden. Mit solchen moments of suspense produziert der dramatische Text ‚cliff-hanger’, die das Ende, die Katastrophe, den Zusammenbruch der Maschine und damit das Ende der Aufführung hinausschieben.
Gleichzeitig findet nicht nur auf der temporalen Ebene eine Suspendierung statt, sondern auch auf der räumlichen Verweisebene. Wenn die Figur des Offiziers die Tötungsmaschine in ihren grausamen Details beschreibt, bleibt die Rede ambivalent, weil sie sowohl auf die lediglich in seiner Erzählung ausgeführte Konstruktion der Maschine verweist als auch immer die gegebene, im Hier und Jetzt seiende Theatersituation miteinbezieht.
„You are now on the island for a short time. You didn’t know the Old Commandant and his way of thinking. You are trapped in a European way of seeing things. Perhaps you are fundamentally opposed to the death penalty in general and to this kind of mechanical style of execution in particular. Moreover, you see how the execution is a sad procedure, without any public participation, using a partially damaged machine.“
Auf die Exekutionsmaschine wird ständig referiert, sie ist im eigentlichen Sinne aber nicht aufgebaut. Die Grausamkeiten werden nicht dargestellt, treten aber dennoch deutlich vor Augen, die Zuschauer sitzen in einem Theaterstück, werden aber ständig als Besucher der Strafkolonie adressiert. Von Figurenrede im klassischen Sinne kann nicht mehr gesprochen werden; eher kommt dem Schauspieler die Rolle eines Textträgers zu, der den Diskurs der Erzählung unmittelbar vor- und in die Vorstellungswelt der Zuschauer hineinträgt.
Das Schauen im Theater, das immer auch eine Zwangssituation darstellt, in der man die Augen offen halten muss, um überhaupt wahrnehmen zu können, stellt sich nun der räumlichen Bedingtheit des eigenen Körpers. Und das ist das, was den Zeugen ausmacht: er schaut auch mit seinem Körper, der Stimmung seiner Nervenzellen, der Anspannung seiner Muskeln, dem Schlag seines Herzens.
„The lid on the inscriber is lifting up slowly. It falls completely open. Now the teeth of a cog wheel are exposed and lifted up. Soon the entire wheel appears. It is as if some huge force is compressing the inscriber, so that there is no longer sufficient room for this wheel. The wheel rolls all the way to the edge of the inscriber, falls down, rolls upright a bit in the sand, and then falls over and lays still. But already up on the inscriber another gear wheel is moving upwards. Several others follow — large ones, small ones, ones hard to distinguish. With each of them the same thing happens. One might be thinking that now the inscriber must surely be empty, but then a new cluster with lots of parts moves up, falls down, rolls in the sand, and lies still. The last gear wheel leaves the inscriber. The harrow is not writing but only stabbing, and the bed is not rolling my body, but lifting me, quivering, up into the needles. But at that point the harrow is already moving me upwards and to the side, with my skewered body — just as it does it in the twelfth hour. Blood flows out in hundreds of streams, not mixed with water — the water tubes also fail to work this time. Then the last thing malfunctions and my body does not come loose from the needles. My blood streams out, I hang over the pit without falling. Help me! Help me! Help me!“
Die Mechanik der Lese- und Schreibmaschine, der großen Tötungsmaschine, der kryptografischen Apparatur wendet sich am Ende gegen den Protagonisten, der sie so wunderbar zu beherrschen geglaubt hat. Alle werden sich die Hälse verrenken, doch niemand wird ihm helfen, wenn er diesen letzten Opfergang macht. Vielleicht ist es das, was dem Darsteller auf der Bühne widerfährt: sich dieser Theatermaschine zu unterwerfen, in ihr den kleinen Tod sterben, jene orgiastische Selbstvernichtung, die er vor den staunenden Augen und Körpern der Zuschauerzeugen an sich vollstreckt. Der Protagonist ist sein eigener Richter, er fällt sein eigenes Urteil, er macht mit sich kurzen Prozess, das Theatergesetz befolgend, wonach der Tod auf dem Theater einem performativen Sprechakt gleicht. In ihm vollzieht der Sprecher, indem er sie ausspricht, eine Handlung; die Verkündigung der Rede fällt mit der Vollstreckung der Tat in eins. Das ist die eigentliche Kryptografie der Theatermaschine, ihr eingeschriebenes Rätsel.