Neun Anmerkungen zu Philipp Gehmachers Incubator

Iteration[1]

Ein Akronym ist ein aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter zusammengesetztes Wort. Ihm ist der Anfang buchstäblich eingeschrieben, ein Akronym später. Es hat seinen Ursprung in anderen Worten, aus denen es gebildet ist. Das Akronym ist immer schon begonnener Anfang, in dem sich das Wort bereits aufhält und sich selbst Schritt für Schritt nähert, ohne selbst zu seinem Ende kommen zu können. Gewortetes Wort, Ergebnis mehrerer Wörter, wiederholt das Akronym in seinen Buchstaben anonymisierte Wörter, die durch es verdeckt sind. Es ist bereits gesagt worden, man muss es nur wieder und wieder sagen: Das Akronymische iteriert als Bewegung, gerade in seiner zwanghaften Wiederholung dessen, was in ihm wiederkommt, es ist die Verdopplung dessen, was bereits gesagt ist.

„Alles ist gesagt, mit Sicherheit, denn alles ist immer schon gesagt worden, aber alles muss gesagt werden, denn das Ganze als solches muss immer wieder neu gesagt werden.“[2]

In dieser und als Wiederholung des Ganzen stehen diese Anmerkungen zu incubator, akronymisch. In diesem Kreuzwort ist alles gesagt, und dennoch:

„I feel as if nothing has been said yet.“[3]

Ich fühle, als wäre bis jetzt nichts gesagt worden. Das Nichts sagen kann ich nicht; nichts sagen, ohne „nichts“ zu sagen, nichts zu sagen ist nicht möglich. Ich fühle, als wäre bis jetzt nichts gesagt worden. Als könnte in dem Zeitraum nach dem Jetzt etwas gesagt werden, was nicht schon gesagt worden wäre. Dieses Nichts kann nicht aufgeschoben werden. Es hat keine Zukunft, seine Gegenwart ist eine unaufhörliche, das Nichts muss immer wieder neu gesagt werden. Das, was über incubator gesagt werden kann, ist bereits an-gefangen in dem, was schon immer gesagt worden ist. Hinter diesem Nichts, hinter diesem Namen, hinter diesem Nichts als Namen steckt wieder ein Name, hinter dem wieder ein Name steckt. Jeder Name sagt den Sinn des ihm vorausgegangenen aus.[4] So verschachtelt sich der Sinn in unaufhörlichen Namen, einer Wortmatrjoschka, die unendlich klein wird, aber nie beginnt. Das bis jetzt ist immer schon zu Ende gekommen und zugleich der unendliche Beginn. In dem Namen resoniert jeder andere Name, dessen Echo, das in ihm widerhallt und wiederholt werden muss. Der Name ist die Unterbrechung und die Fortsetzung der vor ihm und nach ihm kommenden Namen. Er ist der präsente Sinn des bis jetzt und noch nicht in einem. Der Name ist ein Diskurseffekt, in welchem sich das gewortete Wort später schon immer eingenistet haben wird, selbst ein gewortetes Wort. Dieses Futur II, eine vergangen seiende Zukunft, ist das Merkmal des Akronymischen, des akronymischen Namens, des Namens. Es zeigt den Sinn des Anfangens als Tentativ. Diese Logik des Sinns geht vor und sie geht nach zur gleichen Zeit.

Name

Von Probenanfängen, terminiertem Anfangen an wurde incubator von Namen begleitet. Auf der Rückseite eines Flyers, der zur incubator-Premiere in Wien produziert wurde, sind nacheinander Begriffe abgedruckt, die sich für den künstlerischen und diskursiven Prozess als produktiv erwiesen haben. Diese Begriffe haben das Projekt auf allen vier Stationen begleitet und zunächst ein semantisches Feld eröffnet, in welchem die Kommunikation des Prozesses stattfinden konnte. Diese rückseitige Mauer aus Namen repräsentierte den Übersetzungsversuch eines nicht diskursiven Sinnes in einen diskursiven, wortsprachlichen. In die Lücken der Syntax, denn die Wörter waren nicht verknüpft, sollte sich der performative Sinn der Aufführungen eintragen können, ohne diesen zu erklären, auszudeuten. Ein Wörterhof, in dem die Bedeutung spielen kann. Eine Aufzählung, eine Liste von Namen, eine semantische List ohne syntaktische Ordnung. Diese Wörter haben kein Subjekt, dem sie sich unterwerfen, aus dem sie hervorkommen. Sie sind ohne Prädikat, das sie in deren logisches Verhältnis setzte. Sie haben kein Objekt, keine Anrede, verfugen sich zu einer lose geordneten Mauer von Namen, ohne syntaktischen Sinnmörtel, der die Wörtlichkeit verkleben könnte. Durch diese Sinnritzen scheint der Prozesssinn hindurch.

Choreographie

Jede Station hat diese Begriffe in ein neues Verhältnis gebracht, um einen jeweils neuen Aufführungstext zu schreiben. Choreographische Beistriche, Satzzeichen, Grammatiken ordnen dabei die Begriffe zu einem Aufführungstext und strukturieren den Bewegungssinn, performativ. Dieser ist gleichwohl nicht vor der Sprache, sondern von der Sprache durchlaufen. Entsprechend sprechen die Namen nicht über die Choreografie, sondern von ihr. Sie sind keine Benennungen, kein von außen an sie angeklebter Diskurs. Die Choreographie sagt die Namen aus, ohne sie auszusprechen, und choreographiert die Namen, später ein Bewegungstext, in eine syntaktische Ordnung. Jede Bewegung aber gelingt nur über die gesetzte Unterbrechung.[5] Die Interpunktion, die Zwischen-Punktierung, die sich zwischen die Begriffe stellt, bringt die Namen im Satz zueinander im Zeichen der Setzung. Die paradigmatischen Lücken schließen sich und öffnen sich dem syntagmatischen Sinn, der linearen Verkettung und binden den Sinn an die Zeit. Choreographierte Bewegung ist der sinnvolle Gebrauch von Zeit. In dieser Zwischen-Punktierung liegt Bewegung dazwischen, kommt nicht zu sich, bis jetzt kann sie nichts sagen, nichts gesagt haben, weil sie das ist, was der Ausdruck nicht ausdrückt. Sie ist in jenem Sinn reiner Sinn, als sie dann nicht das sagt, was die Namen zuvor, bis jetzt nicht gesagt haben, ohne jedoch nichtssagend zu sein. Der Sinn ist insofern linear strukturiert, als er das, was ihm vorhergeht, weiter in die Zukunft verschiebt, auf Linie bringt; Bedeutung dagegen dringt ein, von außerhalb des Satzes, von außerhalb der Sinnstruktur, paradigmatische Besatzung. Jedoch kommt die Bewegung des Sinns nicht zu einem Abschluss, auf den sie zusteuern könnte. Jeder interpunktierte Halt ist nur eine Unterbrechung, die in einem späteren Satz wieder aufgehoben wird, um sich dann wieder zu unterbrechen.

„Thomas von Aquin hat Bewegung als ‚actus imperfectus‘ in zweierlei Hinsicht definiert: zum einen als etwas, dessen Wirklichkeit unvollendet ist, und zum anderen als eine unvollendete Handlung.“[6]

Gerade durch die gliedernde Interpunktion kann der Bewegungssatz kaum Luft holen, ist nicht auf sein Ziel hin abschließbar. Bewegung hat dadurch keine (Aus-)Richtung, sie wuchert im Dazwischen von Anfang und Ende weiter, hervorgebracht, gezähmt wie auch zum unabschließbaren Wuchern erst gebracht durch die Unterbrechung.

U/topie

In dieser Unterbrechung öffnet sich keine Tür zu einem Sinnraum, in den ich überwechseln könnte, denn ich bin schon (bis jetzt?) an dem Ort, von welchem aus ich spreche. Nur wenn ich außerhalb des Sinns mich aufhielte, könnte ich theoretisch sprechen, könnte ich THEORIE sprechen. Denn dann hielte ich mich nicht dort auf, wohin, worüber ich spreche, ich wäre woanders, utopisch. Theorie will den Wissensraum verschieben an einen utopischen  Ort, die Unterbrechung aufheben, den Sinn schließen, um von dort, von außen her ihre erkenntnistheoretische Wirkung entfalten zu können. Wenn ich theoretisch spreche, spreche ich auf etwas zu. Ich wäre in einer Richtung, ohne in Bewegung zu sein. Dieses zu markiert Theorie als Schau-Ort (theoria), von welchem aus ich blicke, von welchem aus ich Denken als Ausrichtung verstehen müsste. Ich jedoch bin bereits im Sinn, im Sinn von incubator, durch ihn als mein Diskursbegründer strukturiert und interpunktiert. Ich bin meine Textgeste an diesem Ort, nicht auf ihn zu, sondern in und bei. Auf ihn kann ich nicht schauen, ihn kann ich nicht lesen, gerade weil ich an meinem Platz bin.

„Und doch macht diese unlesbare Geste, dieser leere Platz erst die Lektüre möglich.“[7]

Auch wenn ich bereits an dem Ort bin, von welchem aus ich spreche, kann ich die Sinnlücke nicht besetzen, ich markiere sie. Diese Lücke bleibt offen, unabschließbar in Bewegung in dem Raum, in dem ich mit meinem Körper gleite.

Berührung

In der Syntax von incubator verfügen sich die begrifflichen Singularitäten, die eigenen Namen und bleiben doch ganz bei sich. Sie sind nur durch die anderen bei sich, teilen ihre Singularität mit-einander, kommen bei sich an. Über ihre semantische Kinesphäre hinaus berühren sich die Wörter an den Schultern ihrer Anfangs- und Endbuchstaben und teilen den gleichen (Sinn-)Raum, ein Streicheln des Sinns. Die Mutter gibt in Woman Under the Influence[8] einem ihrer Kinder ein I love you mit in die Nacht. Und es antwortet I love you, too. Alles ist bereits gesagt worden, und doch scheint es wiederholt werden zu müssen, verdoppelt zu werden in einem auch, das das Gleiche iteriert. Aber dieses auch ist auch ein zu: Mit I love you, too hebt das Kind seinen Kopf in Richtung seiner Mutter, als sie es küsst, kommt ihr entgegen. Es meint I love to you.

I love to you is more unusual than I love you, but respects the two more: I love to who you are, to what you do, without reducing you to an object of my love.“[9]

Die Lippen berühren einander beim Sprechen. Alles ist bereits gesagt, man muss es immer wieder sagen. Ich bin dort, wo ich zu dir bin, auch. Die Iteration dieser Aussage wiederholt das Tentativ, too, den Versuch, zum anderen hin zu sprechen, die Sprache hebt den Kopf, ein Temptativ, den anderen zur Liebe zu versuchen, in die Nähe ihrer Lippen zu bringen.

„Es gibt Nähe, jedoch insofern, als noch das extrem Nahe den Abstand beklagt, der sich vor ihm auftut. Alles Seiende berührt alles Seiende, doch das Gesetz des Berührens ist Trennung, und mehr noch, es ist Heterogenität der Oberflächen, die sich berühren. Der Kontakt ist jenseits von voll und leer, von gebunden und ungebunden. Ist ‚in Kontakt treten‘ der Beginn, für ein-ander Sinn zu machen, so dringt dieser ‚Anfang‘ in nichts, in keinerlei dazwischenliegendes vermittelndes Milieu.“[10]

Diese Liebe ver-heißt ein mit, das den anderen nicht als anderen abgrenzt. Die Berührung durch die Sprache der Liebe spricht den anderen an, sie spricht den anderen, diese Sprachberührung ist. Sie ist nicht unterwegs, sondern schon im Raum, der den anderen berührt. Sobald dieses Ich liebe dich ausgesprochen ist, kann dieser Raum nicht mehr verlassen werden, ist der andere nicht mehr zu verlassen. Das Mit „ist – nichts als mit-sein, das unkörperliche Mit des Körper-seins als solches. Bevor die Sprache Wort, Einzelsprache, Verbalität oder Bedeutung wird, ist sie dies: die Erweiterung und die Simultaneität des ‚Mit‘, insofern die eigentlichste Kraft eines Körpers in dessen Eigenschaft besteht, einen anderen Körper zu berühren (oder sich zu berühren), was nichts anderes ist als seine De-Finition als Körper. Er kommt zum Ende – hört auf und vollendet sich in ein und derselben Geste – dort, wo er mit-ist.“[11]

Und gleichzeitig ist dieser Körper de-finiert, weil er un-endlich ist, weil er kein Ende haben kann beim anderen.

Abstand

Die Lücke zwischen den Worten. Dieses love zwischen I und You, dieser Abstand zwischen den Namen auf dem gefalteten Blatt, der Abstand zwischen dir und mir: eine Textgeste, die nicht übersetzbar ist, deren Abstand dem Sinn Platz verschafft. Sie hält den Wortsinn offen, sonstwäreeinemühsamerasterfahndungnachdemsinnvonnöteninwelcherdiebuchstabenwieineinemdetektivspielzumorphologischeneinheitenerstgeordnetwerdenmüssten. Diese Lücke ist nicht vorsprachlich, sondern das Atemholen des Sinns, dessen Hauch.

„Das Zwischen ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären als solchem eröffnet wird, und eine Art Verräumlichung seines Sinns. Was nicht die Distanz des Zwischen hält, ist nichts als in sich verschmolzene Immanenz und sinnentleert.“[12]

Diese Textgeste ist der reine Zustand der Ausnahme von Sprache, deren Ausnahmezustand. Indem sie ihren Ausnahmezustand erklärt, setzt diese Geste die Sprache außer Kraft, um ihr gleichwohl zur Sprache zu verhelfen. Als Grenze des Sagbaren teilt sie der Sprache die Grenzen deren eigener Mitteilbarkeit mit. Die Geste macht die Mittelbarkeit von Sprache gerade dadurch sichtbar, dass sie die sprachlichen Mittel an ihre Grenze(n) bringt. Aus diesem Grund ist diese Geste nicht ohne Sprache zu denken. Sie ist eine Ohne-Sprache, deren ohne ihr jedoch als ohne zugehört und zuhört.

Wenn der Tanz Geste ist, dann indes nur, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbarmachen eines Mittels als solchem.“[13]

Die Geste, die keine Berührung ist, braucht die Als-Beziehung (I feel as if nothing has been said yet) einer Distanzierung, um das, was dann nicht gesagt wird, sagen zu können. Unter einer Bedingung:

Wenn wir das, was bei jedem Akt des Ausdrucks unausgedrückt bleibt, Geste nennen, […].“[14]

Das Zitat muss an dieser Stelle unterbrochen werden, sein Ende muss unausgedrückt bleiben, weil die Textstelle sonst die Geste des Textes unterbrechen würde, die Unterbrechung als Textgeste selbst.

Tautologie

Es ist alles bereits gesagt worden. Das Nichtausgedrückte ist nicht das, was bis jetzt nicht gesagt worden wäre; es wird niemals gesagt werden (können). Es haftet dem Sagen selbst an, nicht aber (nur) in jenem Sinne, dass jedes Sagen auch ein Nichtsagen, ein Verschweigen ist, weil jedes Sagen nur das sagen kann, was es in dem Moment des Sagens sagt, weil es in dem Moment des Sagens nichts Anderes sagen könnte. Seine Potenzialität liegt nicht in der Zukunft, nicht in der Unerfüllbarkeit des Sagens, sondern in jenem als. Das, was als Geste benannt werden könnte, drückt das Nichtausgedrückte selbst aus. Es ist ein Ausdrucksmedium des Nichtausdrucks. Die Mitteilung der Mittelbarkeit, welche das Ausdrucksmedium als solches sichtbar macht, mutet tautologisch an. Es scheint, als würde die Geste nur sagen: Eine Geste ist eine Geste. Wenn die Geste sich selbst mitteilt, setzt sie sich aber nicht mit sich gleich, sie setzt sich als sich. Nur über diese Verschiebung wird der Abstand hergestellt, der überhaupt erst einen Ausdruck des Nichtausdrucks differenzieren lässt. So ist der Abstand, der sich zwischen Arm und Körperrumpf auftut, geradezu konstitutiv für die Geste in incubator, weil dieser die Geste als Geste kenntlich macht. Gerade weil die Geste durch diesen Abstand vom Körper wegzeigt, deutet sie auf sich hin. Die Geste als Geste, Bewegung als Bewegung, Tanz als Tanz drohen nicht von einer tautologischen Selbstbegründung bedroht zu werden. Tautologie bleibt im Begründungsanspruch selbstreferenziell, sie hat kein Außerhalb jenseits der zirkulären Identifizierung; die Geste bezieht sich, noch einmal, nicht auf sich, sie bezieht sich als sich, sie zeigt sich als sich, ohne sich stellzuvertreten. Die Geste als Denkfigur hält den Abstand offen, in welchem Ausdruck als Nichtausgedrücktes ausgedrückt wird.

„Ein Denken, das das Sein als Sein erfassen möchte […] sagt nicht mehr etwas als etwas, sondern bringt das als selber zur Sprache.“[15]

In dieser Als-Bedingung, die Bedingung des als kann die Geste keine Leerstelle sein, sie hält sie als Leerstelle offen. Sie ist bereits das als als als.

Original

Was bei jedem Akt des Ausdrucks unausgedrückt bleibt, ist bereits gesagt worden. Die Künste

„sollen im Sinnlichen […] zeigen, dass dem Sinnlichen etwas fehlt oder dass etwas über das Sinnliche hinausgeht – wobei unwichtig ist, wie man das nennt, da es das Unbenennbare ist.“[16]

Dieser Soll-Anspruch eines Zuviel oder Zuwenig an Sinn kann nur aufrechterhalten werden, wenn das Zwischen mit (diskursiver) Bedeutung gefüllt werden soll, in einer Theaterrezeption der Repräsentation. Wenn das Zwischen nicht mehr als als Zwischen, als als Leerstelle, sondern als Leerstelle für etwas Anderes stehen soll, zum Sprechen gebracht werden soll. An diese Unterstellung einer unumstößlichen Beziehung von Inhalt und Ausdruck schließen sich bis jetzt ästhetische Überlegungen an, die nach der Bedeutung einer Geste, einer Bewegung, eines Bildes fragen, nach dem Tableau fragen, welches die vier Darsteller in einer Szene von incubator stellen, danach, was dieses über das Sinnliche-im-Sinnlichen hinaus ausdrückt. Bis jetzt macht diese Unterscheidung in Sinn und Sinnlichkeit aber nur so lange Sinn, wie das „Gesagte vom Gesehenen“[17] abgeleitet wird, solange der Text dem Bild, das bis jetzt nichts gesagt hat, nachgeordnet wird. Was aber, wenn dieses Verhältnis von nicht diskursivem Original und diskursiver Übersetzung nicht mehr ein nachrangiges ist. Wenn der Sinndruck von ausdrückender Bewegung, Geste und ausgedrücktem Text weggenommen wird aus diesem Verhältnis und nicht länger vorausgesetzt wird, dass das Sinnliche für den einen, anderen Sinn steht. Ist dann die geballte Hand etwa der Ausdruck von Zahnschmerzen, oder könnte der Zahn nicht für die schmerzende Faust stehen.[18] Die Emotion in der geballten Faust, die Verkrampfung der Hand vor dem Mund, als Übergangsbesetzungen stehen sie in incubator nebeneinander und bilden

“zufällig und für einen Augenblick eine Konstellation […] als viele kleine Unterbrechungen in der Energiezirkulation. Der Zahn und die Handfläche wollen nichts mehr (einander) sagen, sie sind Kräfte, Intensitäten, Affekte in ihrer Präsenz.“[19]

Abseits der kontingenten, zufälligen Sinnbesetzungen, nicht länger irreversibel und hierarchisch, sagen der Zahn, die Hand einander nicht das Andere, kein Anderes Mehr. Sie sagen das Eigene als das Eigene.

Rest

Es bleibt nichts mehr zu sagen, bis jetzt ist alles gesagt worden. Wenn alles gesagt wurde, gibt es keinen Rest, mehr als Rest oder weniger. Es bleibt das Akronym später, das sich bildet aus allen iterationen, namen, choreographien, u/topien, berührungen, abständen, tautologien, originalen und dem rest, der das Akronym später erst zum Namen macht. Ohne diesen Rest ist das Akronym unvollständig, nichtssagend. Dieser Rest lässt sich nicht sagen. Er ist das, was unausgedrückt bleibt.


[1] „Ite·ra·ti’on, die; -, -en 1. MATHEMATIK Verfahren der schrittweisen Annäherung an eine exakte Lösung 2. MEDIZIN zwanghafte Wiederholung von Wörtern, Sätzen, Satzteilen oder Bewegungen 3. Wiederholung, Verdopplung eines sprachlichen Ausdrucks im Satz (Rhetorik)“, zit. nach: Langenscheidt Fremdwörterbuch, Internetausgabe, o. S. Das Internetwörterbuch selbst ist eine schrittweise Annäherung, zwanghafte Wiederholung, rhetorische Verdopplung, mehrfache Iteration von Wörtern, Sätzen, Satzteilen oder (Such-)Bewegungen, indem es sagt, was bereits schon gesagt wurde.

[2] Jean Luc Nancy: singulär plural sein, Berlin 2004, S. 137.

[3] Mit diesem Satz unterbricht Philipp Gehmacher einen kurzen Moment des Schweigens, der sich während des Gruppengesprächs, abgedruckt in diesem Buch, eingestellt hat.

[4] Siehe auch Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt/Main 1993, bes. S. 48–56.

[5] Vgl. Margot D. Lasher: The Pause in the Moving Structure of Dance, in: Semiotica 22, 1–2, 1978, S. 107–126.

[6] Gertrud Koch: Schritt für Schritt – Schnitt für Schnitt. Filmische Welten, in: Gabriele Brandstetter, Hortensia Völckers (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern, Wien 2000, S. 272–284, hier S. 276.

[7] Giorgio Agamben: Profanierungen, Frankfurt/Main 2005, S. 66.

[8] Dialoge und Tonaufnahmen von Szenen aus John Cassavetes’ gleichnamigem Film von 1974 wurden in incubator verwendet.

[9] Luce Irigaray: The Way of Love, London, New York 2002, S. 60.

[10] Nancy: singulär plural sein, a. a. O., S. 25.

[11] Ebd., S. 141 f.

[12] Ebd., S. 25.

[13] Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Berlin 2001, S. 60.

[14] Agamben: Profanierungen, a. a. O., S. 62.

[15] Giorgio Agamben: Die kommende Gesellschaft, Berlin 2003, S. 93.

[16] Jean-François Lyotard: Postmoderne Moralitäten, Wien 1998, S. 206.

[17] Vgl. Jean-Luc Godard: Das Gesagte kommt vom Gesehenen, Bern 2002, S. 29 ff.

[18] Vgl. Jean-François Lyotard: Der Zahn, die Hand, in: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 11–23, hier S. 21.

[19] Ebd.

Eine Version dieses Textes erschien in Gehmacher, Glechner, Stamer (eds.) Incubator. Passagen Verlag Wien. 2006