Für ihr Projekt Hans im Glück arbeiteten Peter Stamer und sein Kameramann Kike Garcia mit dem Interkulturellen Zentrum Mädea zusammen, das für seine Theaterprojekte Unterstützung bei der Anschaffung von Bühnenscheinwerfern benötigte. Die Mädchen und jungen Frauen von Mädea stellten den beiden Ausufern-Künstlern eine kleine, von ihnen handgemachte Skulptur zur Verfügung. Diese diente als Ausgangsobjekt für eine auf drei Monate angelegte Mammutaufgabe: ab dem 2. Juni 2018 versuchte das Hans im Glück-Duo Menschen zu finden, die dabei halfen, die Skulptur in einer Kette von Tauschaktionen gegen andere, nach Möglichkeit jeweils höherwertige Gegenstände einzutauschen – um am Ende tatsächlich die benötigten Theaterlampen zu erlangen!

For their project dubbed Hans im Glück Peter Stamer and Kike Garcia worked in close relation with the intercultural centre MÄDEA by Foundation SPI, who needed support with the acquisition of a set of stage lights for their theatre projects. The girls and young women of MÄDEA will provided the artists with a small handmade sculpture made by them. This served as the starting point of the massive undertaking happening over the course of a year. Starting on the second of June 2018 the duo Hans im Glück  looked for people willing to swap the sculpture in a chain of items with increasing value. And finally they managed to obtain the required theatre lamps!

Hans im Glück ist als Videoreportage angelegt, die durch diese Tauschaktionen Menschen des Kiezes und deren Lebensumstände, ihr Verständnis von Glück, von Reichtum und ihre Wertvorstellungen portraitiert. Sie legt dar, wie Tausch und Austausch, wie Transaktionen und Kommunikation miteinander zusammenhängen, und macht ein bislang unsichtbares Geflecht von sozio-ökonomischen Verknüpfungen sichtbar. Und nicht zuletzt: Hans im Glück macht sich ohne viel Aufhebens daran, ein von finanziellem Mangel verursachtes Problem auf unkonventionelle Weise zu lösen.

Hans im Glück is laid out as a video reportage, portraying those living in this hood, their understanding of happiness, of wealth and their values. Presenting how bartering and exchanges, transactions and communication are forever intertwined, uncovering the invisible network of socio-economic connections.Lastly, without much fuss and in an unconventional manner Hans im Glück aims to solve a problem that emerged due to the lack of funds. On the second of June, the first of July and the fourth of August Peter Stamer and his guests will introduce you to the current state of affairs at each of those points in time.

Am 2. Juni 2018, am 1. Juli 2018 und am 3. August 2018 stellten Peter Stamer und Gäste den jeweiligen Stand der Dinge im Rahmen des Ausufern-Festivals in den Uferstudios vor. Und am 19. Mai 2019 fand die finale Präsentation des Projekts im Rahmen einer Ausstellungsinstallation von Peter Stamer im Mitte Museum statt.

On June 2nd, 2018, on July 1st 2018 and on August 3rd 2018, Peter Stamer and his guests introduced to the current state of affairs at each of those points in time. On May 19th, 2019 the final version of the project was being presented at Mitte Museum in the framework of an art installation by Peter Stamer.

www.uferstudios.com / mittemuseum.de

B L O G

24. Mai 2018: Die Übergabe des Ausgangsobjekt

Heute geht’s los: die Mädchen und jungen Frauen von MÄDEA wollen mir und Kike die kleine, niedliche Figur überreichen, welche sie aus Knetmasse für das Projekt gebastelt haben. Wir sitzen zu fünfzehnt im großen Saal des interkulturellen Zentrums in der Grüntalerstraße 21, die Betreuerinnen Ulla, Eva und Eylem sind auch mit dabei, und versuchen, ein Gespräch mit den Mädchen zu führen. Was findet ihr toll an Mädea, was macht ihr hier eigentlich genau, welche Projekte bei Mädea interessieren euch, was bedeutet Glück für euch, was könnt ihr mit Geld anfangen etc. Es gelingt uns allerdings nur mäßig. Zuviele Fragen wohl, die Aufregung manchmal zu groß, und auch meine Fragen haben wohl nicht immer die richtige Temperatur. Lieber öffnen Lisa, Frida, Ilayda, Alex, Medina, Faseeha, Emiliya und Sarah die kleine Kiste, in welcher viele der MÄDEA-Figuren liegen, die sie in Handarbeit gemacht haben. Nun wollen sie die schönste für unser Tauschgeschäft aussuchen – schließlich geht es um viel: heute wird der Anfang gesetzt, um am Ende, nach wievielen Tauschschritten auch immer, zu den gewünschten Theaterscheinwerfern zu kommen. Es dauert eine halbe Stunde, bis sich die Mädchengruppe im demokratischen Ausschlussverfahren auf die entsprechende Figur geeinigt haben. Nun wollen wir das Übergabezeremoniell filmen und begeben uns daher in den kleinen Theaterraum im ersten Stock. Ich möchte das Überreichen der Figur – mit einem Augenzwinkern – für die Kamera inszenieren. Also stellen wir uns gemeinsam vor einem großen Gemälde an den gegenüberliegenden Wänden des Raumes auf, gehen aufeinander zu, lächeln in die Kamera und schütteln uns die Hände, während die Figur den Besitzer wechselt. So zu tun, als wären wir auf dem Mond und fast schwerelos, wenn wir in Zeitlupe aufeinanderzugehen, das macht allen am meisten Spaß. Allen voran Fazeea. Die 12-jährige will, wie sie sagt, einmal Schauspielerin werden und macht das jetzt schon verdammt gut. Nach großem Gelächter halte ich am Ende die MÄDEA-Figur in meinen Händen. Es kann also mit dem Projekt losgehen. Was ist der nächste Schritt? Wer könnte Interesse an einer 12 cm großen Knetfigur haben?

Faseeah überlässt mir die kleine gelbe Skuptur. Es kann losgehen!

31. Mai 2018: Der erste Tausch – Auf der Suche nach Hans in Glück am Märchenbrunnen

Fehlt es mir an Vorstellungskraft – oder warum sonst denke ich darüber nach, wie Hans im Glück eigentlich aussieht? Hans im Glück soll ja nicht nur eine Bezeichnung sein, die Figur braucht auch einen Körper, ein Gesicht. Oder nicht? Bei Vorrecherchen zum Projekt habe ich, shame on me, zum ersten Mal vom Märchenbrunnen gehört, der am Westeingang des Volksparks Friedrichshain zu finden ist. Neun Hauptfiguren aus Grimms Märchen, Schneewittchen, Dornröschen und eben auch Hans im Glück stehen hier quasi seit 1913 auf ihrem Sockel, um ein weitläufiges Wasserbassin gruppiert. Als wir morgens gegen 9 Uhr im Park ankommen, ist hier schon mächtig Betrieb durch Schulklassen, gegen deren lautes Getobe kommt selbst das ohrenbetäubende Rauschen des Wassers kaum an. Wir drehen erst einmal ein paar Atmo-Bilder und dann, als die Schulkinder langsam Richtung Parkinneres verschwinden, pflanze ich mich neben den in Stein gehauenem Hans im Glück und versuche, ein paar kluge Sachen (naja) über das Märchen und ihre verschiedenen Interpretationen in die Kamera zu sprechen. Dass dieser Märchenbrunnen zur Zeit des Kaiserreichs die niederen Klassen ‚erbauen’ sollte, was natürlich im Falle von Hans im Glück einer gewissen Ironie nicht entbehre, da dieser aus der Logik des anzunehmenden ‚richtigen’ wirtschaftlichen Verhaltens aussteige und sich eher einem allgemeinen Glücksbegriff verweigere und lieber seiner eigenen Vorstellung davon folge. dass das Märchen daher von Karl Marx hätte geschrieben worden sein, wie der Politikwissenschaftler Iring Fetscher meinte, weil die Figur die individuelle Wertformel dem allgemeinen Äquivalent (= Gold/Geld) vorzöge. Bei diesen Versuchen, der Figur Hans ein wenig mehr Leben einzuhauchen, fällt mir aus den Augenwinkel ein, nun ja, mittelaltes Paar auf, welches im Wasser des Märchenbrunnens zu spielen scheint. Sie trägt ein kurzes, an der Seite geschlitztes Strandkleid, er eine Kamera um dem Hals, und beide gehen ihrer fotografischen Arbeit nach, sie vor, er hinter der Fotokamera. In einer Denkpause spreche ich die beiden an. Esther und Tilmann kommen aus Frankfurt/Main, sind heute an ihrem letzten Urlaubstag in Berlin in den Volkspark gekommen, um hier Fotos für ihren Blog zu machen. Sie reisen quer durch die Welt, um sich in Landschaften oder vor urbaner Kulisse gegenseitig leicht bekleidet oder gar nackt abzulichten. Ich erzähle ihnen von unserem Tauschprojekt und frage sie, ob sie Lust auf ein Gespräch vor der Kamera hätten. Natürlich haben sie. Als wir auf der Bank sitzen, geht es ganz plötzlich ganz schnell: als ich die kleine MÄDEA-Skulptur aus ihrer Schachtel hole, um sie ihnen zu zeigen, überrascht mich Tilman mit seinem Angebot. Er bietet eine Powerbank, mit welcher man sechs Smartphones gleichzeitig aufladen kann, für die kleine Figur. Ein Technikgadget für Handgemachtes also. Etwas Funktionales, das eventuell viele brauchen können und sich daher zum Tausch animieren lassen, gegen eine kleine Knetfigur, welche von nun an, wie Esther verzückt sagt, das Maskottchen für ihren Blog sein soll. Esther ist glücklich, Tilmann ist glücklich, und Kike und ich sind glücklich, und also schlagen wir ein. Unser erster Tausch! Ein wenig Wehmut kommt nun bei mir hoch. Schließlich müssen wir uns von der kleinen Figur verabschieden, die mir, so seltsam das auch klingen mag, irgendwie ans Herz gewachsen war. Oder ist es eher das Gefühl der Verantwortung, das ich gegenüber dem Projekt, gegenüber Mädea empfinde, das mich fragen lässt, ob ich das Richtige getan habe? Zu spät, Esther und Tilmann verabschieden sich, und für uns stellt sich die Frage: wie weiter? Wer könnte sich für eine ‚Powerbank mit sechs USB-Anschlüssen’ interessieren?? Und vor allen Dingen: was kann man dafür im Gegenzug verlangen?? Schließlich wollen wir irgendwann zu den Theaterscheinwerfern gelangen…

2. Juni 2018: Der zweite Tausch – Das Fernglas auf dem Nachbarschaftsflohmarkt der Uferstudios

Da passt es grandios, dass AUSUFERN ein paar Tage später auf dem Gelände der Uferstudios einen Nachbarschaftsflohmarkt organisiert. So ein Flohmarkt ist eine feine Sache: die Leute bieten die unterschiedlichsten Sachen in ganz verschiedenen Preiskategorien an, jedes Ding hat eine eigene Geschichte, eine eigene Patina. Das Problem: die Leute wollen ihre Sachen wohl eher VERKAUFEN, als dass sie TAUSCHEN? Kike und ich machen uns dennoch erwartungsfroh auf den Weg durch die Stände, die auf dem Gelände der Uferstudios um den so genannten Impossible Forest aus toten Bäumen und Pflanzen aufgestellt sind. Uns fällt gleich ein Schaukelpferd aus Holz ins Auge. Die Frau hinter dem Stand winkt aber sofort ab. Das Kinderspielzeug hat hohen Erinnerungswert für sie und vor allem für ihre Kinder, sagt sie. Wenn sie diese gegen diese Powerbank eintauschen würde, wären die Kinder ganz schön sauer auf sie. Wir ziehen weiter. Auf einem anderen Tisch steht ein japanisches Teeservice in einer Holzkiste. Ein Geschenk, sagt Tina, die Besitzerin, und holt die Tassen hervor. Mir persönlich gefällt das Service, aber wäre dieses auch ein geeignetes Tauschobjekt für unser weiteres Spiel? Und da treffen wir auf Michelangelo. Neben Spielzeug und anderen Waren liegt ein geöffnetes Etui vor ihm, aus dem ein Fernglas herauslugt. Ein Taschenfernglas von Eschenbach. Hm. Ich zücke die Powerbank, Michelangelo schaut sie sich genau an. Interessiert? Hm. Ob er mir etwas zu dem Fernglas sagen kann. Na ja, meint er, das hätte einem Freund der Familie gehört, der den jungen Michelangelo damit immer wieder gerne raus ins Grüne zur Naturbeobachtung gelockt habe, als Stadtkind aber habe er sich für den Wald nicht so richtig erwärmen können, und so blieb das Fernglas meistens zuhause in dem Ledertäschchen. Ich schaue Michelangelo an, er schaut mich an, und wir haben uns verstanden: die Powerbank findet nun einen neuen Besitzer, und ich hab für das Projekt ein Fernglas getauscht. Ob es mir mehr Durchblick verschafft?

Ich rufe tagsdarauf bei Mädea an und berichte von den beiden Tauschgeschäften. Ulla ist zunächst etwas ungläubig: Hast du deine Freunde aktiviert oder machen die Menschen wirklich mit?? Ja, lache ich, diese Menschen haben wir wirklich zufällig getroffen! Sie haben sich für unser Spiel begeistert und scheinen gerne mitgemacht zu haben. Und schließlich steht bei ihnen zuhause jetzt ein Objekt mit einer besonderen Geschichte. So wie das Fernglas eine eigene Geschichte hat. Was, frage ich Ulla, kann ich damit tun? Hast du eine Idee, wo und wie ich dieses an den Mann, an die Frau bringen kann?

Michelangelo händigt das Fernglas aus

13. Juni: Vom Humboldthain mit Fragen an das Quartiersmanagement

Ulla und Eva von Mädea haben tatsächlich eine Idee: vielleicht benötigen ja Besucher des Humboldthains ein Fernglas, wenn sie von der Aussichtsplattform am Flakturm auf die Stadt schauen wollen? An einem verregneten Donnerstagmorgen schleppen wir uns auf diesen Hügel, bis auf ein paar Schule schwänzende Jugendliche und zwei, drei Rentner treffen wir jedoch niemanden an. Trotz Regenwolken ist der Blick über den Norden Berlins dafür aber phänomenal; ich muss zugeben, ich war vorher noch nie dort oben. Mit dem Fernglas vor den Augen lasse ich meinen Blick über die Strassen im Wedding schweifen. Auch in den Gassen ist nicht viel los, anscheinend ist es allen heute Morgen zu kalt und zu windig. Hier ein einsamer Radfahrer, dort ein paar Bauarbeiter, und dann aber bleiben meine Augen an einem Strassenschild hängen, zumindest bilde ich es mir ein. Auf dem steht zu lesen: Bellermannstrasse. Und da hab ich nun plötzlich eine Idee.

Vom Gipfel des Humboldthains: wo ist der nächste Tauschkandidat?

Wenig später sitze ich mit Ralf und Magdalene vor dem Gebäude Bellermannstrasse 81. Die beiden blinzeln etwas unsicher in die nun wieder satt strahlende Sonne; ich habe sie anscheinend zu diesem Gespräch überrumpelt. Ralf und Magdalene sind beide Mitarbeiter des Quartiersmanagement Badstrasse, welches als Ansprechpartner in fast jedweder Angelegenheit für den Kiez rund um den Gesundbrunnen zuständig ist. Das Quartiersmanagement mit Sitz in der Bellermannstrasse 81 setzt sich seit 1999 für eine, O-Ton, „sozial gerechtere Entwicklung der Städte und Quartiere ein. Partizipation, Projektsteuerung und Stadtteilentwicklung“ sind dabei zentrale Arbeitsfelder bei der Findung von Lösungen im Stadtteil. Da sind doch meine Augen heute Morgen der richtigen Eingebung gefolgt, denke ich mir, denn auch ich suche eine Lösung für meine Frage: wer hier im Kiez könnte sich für dieses Fernglas interessieren? Ralf prüft das Gerät. Hm. In der Laubenkolonie, sagt Ralf, hinter der Jülicher Strasse leben vielleicht Menschen, die ein paar Vögel beobachten wollen? Oder, ergänzt Magdalene, hier irgendwo in der Strasse könnte ja jemand wohnen, der gerne anderen Leute in die Wohnung schaut, und schmunzelt. Lustige Idee: ich klingle einfach auf Verdacht bei jemandem, halte der Person, die öffnet, das Fernglas entgegen und sage, na, was wäre es Ihnen wert, wenn Sie von nun an etwas mehr über ihre Nachbarn in Erfahrung bringen könnten? Was wäre euch eigentlich das Fernglas wert, frage ich die beiden kokett. Steht nicht bei euch im Büro ein Fahrrad? Na, wie wär’s, das Fahrrad gegen das Fernglas? Keine Chance, sagen sie. Aber irgendwie gefällt mir die Idee: ein Fahrrad für das Fernglas.

Peter, Ralf und Magdalene suchen nach einem Tauschkandidaten

Bevor sich Ralf und Magdalene wieder an die Arbeit machen müssen, empfehlen sie uns noch die Lernwerkstatt schräg gegenüber als Anlaufstelle. Aber zunächst mal machen wir uns auf den Weg zur Laubenkolonie, wie anempfohlen, leider sind dort alle Torzugänge versperrt an diesem mittlerweile heißen Nachmittag, wir kommen nirgendwo rein. Kike und ich trotten zurück zur Bellermannstrasse. Da die Lernwerkstatt erst in einer halben Stunde öffnet, stellen wir uns kurzentschlossen einfach mit Kamera und Mikro auf die Strasse und sprechen Passanten wie in der klassischen Strassenreportage an. Zwei Jungs stehen an der Ecke, sind neugierig auf uns, haben aber nix dabei. Eine junge Frau schaut uns erst gar nicht an, als ich sie anspreche. Die Mutter mit dem Kinderwagen ebenfalls nicht. Da kommt uns ein junger Mann mit blonden Dreadlocks und geschultertem Rucksack entgegen. Er hält an, lacht, ich erkläre ihm, was wir treiben, und schon hat er seinen Rucksack geöffnet, in welchem sich aber neben einer leeren Essensdose nur noch ein Apfel befindet – kein adäquater Tausch, wie auch er findet. Zum Abschied noch seine schnelle Antwort auf die Frage, wann er das letzte Mal so richtig glücklich gewesen sei: als er seine Lehrstelle gefunden habe. Zwar habe sich dieses Gefühl durch die tägliche Routine der letzten Jahre etwas abgenutzt, aber er sei noch immer froh darüber, und so zieht er weiter zur Wohnung eines Kumpel, der um die Ecke wohnt, bei dem er zur Zeit unterkommt. Nach ein paar Minuten biegen zwei ältere Männer um die Ecke, die türkisch miteinander sprechen. Sie halten an, schauen mich freundlich an, als ich ihnen von unserem Projekt erzähle, der eine blickt sogar durch das Fernglas, aber leider haben sie dafür keine Verwendung. Sie sind auf dem Nachhauseweg, am Abend wird das Fasten gebrochen, wie sie mir auf meine Frage antworten, und sie scheinen doch recht erleichtert darüber zu sein, dass diese Zeit der Entbehrung heute zu Ende geht. Dann erleben wir fast einen Abbiegeunfall, weil ein Auto einem anderen die Vorfahrt nimmt, was ein regelrechtes Schimpfgewitter nach sich zieht, als wir zuerst ein paar Melodietupfer einer Mundharmonika hören und dann den jungen Mann sehen, der fröhlich auf dieser Harmonika spielt. Na, jemand der so glücklich wirkt, der ist sicher für unser Spiel zu haben! Gedacht, getan: nicht nur, dass er die Idee charmant findet, er kann uns sogar die Geschichte von Hans im Glück für die Kamera zusammenfassen. Erst kürzlich habe er mit jemandem, der das Märchen nicht kannte, darüber gesprochen. Auch für ihn bedeute Glück, sich nicht mit Besitztum zu belasten. Er wünscht uns für das Spiel viel Glück, denn die Mundharmonika will er nicht gegen das Fernglas tauschen. Unser frisch aufspielender Hans im Glück stößt beim Weggehen fast mit Max zusammen, so nennt sich dieser uns gegenüber jedenfalls. Max hat gerade seine beiden Kinder von der Kita abgeholt. Er schiebt eines dieser Christiana-Bikes, eine Art Ladefahrrad, bei dem vorne Platz genug für kleinere Ladungen oder eben, wie in seinem Fall, für zwei süße Kleinkinder ist. Auch er hat zwar nichts zum Tauschen, und sein Handy will er uns nicht geben, geschweige denn das Rad, klar, aber, so meint er, habe er von einem Mann gehört, der als Lichttechniker beim Theater arbeite, ein Vater aus seiner Kita, vielleicht kann uns dieser ja direkt mit den Theaterscheinwerfern, die wir als Tauschziel nennen, weiterhelfen. Max weiß zwar nicht genau, wie dieser aussieht, aber man könne uns da sicherlich weiterhelfen, wenn wir uns an den Eingang der Kita stellen würden. Wir müssten halt nur alle Leute befragen, die rauskommen. Das erscheint selbst uns für unser Vorhaben etwas zu vage. So richtig weitergekommen sind wir heute nicht. Aber wir bleiben dran. Das für das Fernglas zu ertauschende Fahrrad ist noch immer in meinem Hinterkopf, als wir bei der Lernwerkstatt die Türklinke runterdrücken und in den Raum treten…

Kike Garcia beim Recherchieren: wer könnte ein Rad anbieten?

Ein paar Tage später: Das Fernglas setzt in Bewegung

Allerdings ist in der Werkstatt gerade so viel los, dass Klaus, der an diesem Nachmittag die Werkstatt betreut, nicht sehr viel Zeit für uns hat. Wir tauschen unsere Telefonnummern aus, aber, das sei schon bereits gesagt, es wird nie zu einem Anruf kommen. Denn Kike setzt sich am folgenden Sonntag an seinen Rechner und tut etwas, was wir schon lange hätten tun sollen: online recherchiert er sehr akribisch Radgeschäfte im Wedding und Gesundbrunnen. Wir sind erstaunt, wie viele Radläden es im Kiez gibt. Mit demjenigen, der den Uferstudios am nächsten liegt, fangen wir an: Schererstrasse 5. Als wir den nicht sehr großen Verkaufsraum des Radhaus Wedding betreten, an dessen Wänden dicht gedrängt bunte, neue Fahrräder stehen, drehen sich ein Mann und eine Frau zu uns um. In einer sehr eigenen Mischung aus wacher Skepsis und konzentriertem Lächeln schauen sie uns an. Ich erkläre den beiden das Projekt und lege zum Beweis, dass es uns ernst ist, das Fernglas auf den Tresen. Wenn sie die Idee interessant finden, dann verbergen sie ihre Begeisterung zunächst gut. Elmar hört sich die lange Geschichte an und sagt dann ruhig: „Na, dann schauen wir mal, ob wir ins Geschäft kommen“. Felicitas, seine Partnerin, unterbricht ihn. Sie hat gerade einen Kunden vor sich, der gerade in den Laden gekommen ist und Elmars Expertise braucht. Felicitas kümmert sich anscheinend um das Geschäftliche, Elmar dagegen ist wohl der Schrauber. Das wird offensichtlich, als gleich darauf Elmar draußen auf dem Gehsteig eine Anhängerkupplung an das Rad des Kunden schraubt. Als der Kunde nach dem Preis fragt, sagt Elmar verschmitzt: „Wir machen das jetzt wie bei Hans im Glück“, zu meiner eigenen Überraschung, und verstehe erst nicht recht. „Gib mir einen Zehner.“ Daraufhin der Kunde: „Was?! Für die Kupplung und den Anhänger, den du mir leihst? Ich sage 25 Euro.“ Ich traue meinen Ohren nicht: der Kunde will MEHR zahlen als den Preis, den Elmar aufgerufen hat?! Elmar erwidert ruhig: „Also gut, dann 15 Euro.“ – „Nee, nee“, sagt der Kunde, und jetzt denkt er sich einen Vorwand aus, um sein Geld doch noch loszuwerden: „Ich hab nur einen 20-Euro-Schein, also 20.“ Da hat er aber die Rechnung ohne Hans im…, Verzeihung: Elmar gemacht: „Dann gehste mit rein, ich geb Dir einen Fünfer raus.“ Beim Reingehen sage ich zu Elmar, dass ich mir bei dieser Geschäftstüchtigkeit ja einfach ein Fahrrad für mein Fernglas aussuchen könne, das dürfte ja kein Problem sein. Elmar muss selbst lachen. Sie würden, sagt Elmar, ihr Geld vor allem durch den Verkauf von Fahrrädern verdienen, durch Reparaturen natürlich auch, aber das hier sei ein Freundschaftsdienst für einen alten Kunden. Und außerdem, fügt Elmar hinzu, sei Geld nicht alles, und biegt nach hinten in seine Werkstatt ab. Dort hängt bereits ein Fahrrad am Reparaturhaken, und Elmar beginnt zu erzählen. Er und Felicitas sind Anfang der 70er Jahre unabhängig voneinander vom Südwesten Deutschlands nach Berlin gekommen. Nach dem Abitur suchte Elmar mit ein paar Freunden eine große geräumige Wohnung, er wollte raus aus der pfälzischen Kleinstadt, und die Mieten waren in West-Berlin am erschwinglichsten. Die Grenzstadt, die er ein Jahre vorher bereits einmal besucht hatte, lockte auch damals viele an, weil sie neue Lebensformen, andere Freiräume erlaubte. Die Kommune 1 war zwar damals bereits Vergangenheit, die ‚Wohngemeinschaft’ damit aber als eine Art Lebens- und Kampfgemeinschaft in nicht nur alternativen Kreisen eingeführt. Damals, so Elmar, erschien der erste Bericht des Club of Rome, der sehr eindrücklich die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums darlegte und mit dem mahnenden Hinweis auf die ökonomisch in Kauf genommene Zerstörung der Umwelt weltweit großes Aufsehen erzeugt. So auch bei Elmar. Elmar war schon immer ein passionierter Radfahrer gewesen, aber angesichts des Raubbaus an der Natur und Luftverschmutzung durch Verbrennungsmotoren lag der Schritt vom Hobby zum Beruf doch sehr nahe. „Das Fahrrad ist die beste Erfindung der Menschheitsgeschichte“, meint Elmar, als er den Lauf de Hinterrads überprüft. Er muss dann doch schmunzeln ob der Radikalität seiner Aussage. Aber natürlich meint er es genauso. „Fast jeder Mensch, der mir auf dem Fahrrad begegnet, ist fröhlich“, fügt er erklärend hinzu. Und wenn seine Kundschaft fröhlich ist, weil er sie mit seinem Service beim Radfahren unterstützt, mache ihn das auch glücklich. Geld ist nicht alles, wiederholt er noch einmal. Dann legt er unvermittelt den Schraubenschlüssel auf die Werkbank, wischt sich die Hände ab und geht von der Werkstatt durch den Laden in den Hinterhof. Wir folgen ihm. Als wir dort ankommen, steht er bereits in einem Pulk von Rädern und nestelt an einem herum. Er öffnet das Schloss, schiebt das Fahrrad in die Mitte des Hofes und sagt: „Voilà. Da ist es, das Prachtstück.“ – „Äh?“, sage ich. Er: „21 Gang.“ Ich: „Äh?“ Er: „Und mit Rennradsattel. Ob es fahrtüchtig ist, überprüfen wir aber noch.“ Noch bevor ich mein drittes ‚Äh’ herausbringe, schiebt er das Rad in die Werkstatt und hängt es an den Reparaturhaken. Die Bremsen müssen gemacht werden. Elmar zieht innerhalb von wenigen Minuten einen neuen Bremszug ein, stellt die Bremse ein, fertig. Dann hängt er das Rad wieder ab und schaut mich an. „Derjenige, der das Rad beim nächsten Tausch bekommt, kann jederzeit bei mir vorbeikommen, falls noch etwas zu machen ist.“ Ich bin zum wiederholten Male sprachlos: für das Fernglas haben wir tatsächlich ein Fahrrad bekommen. Leute, Schererstrasse 5. Radhaus Wedding. Mehr kann ich im Moment echt nicht sagen!

Elmar Müller vom Radhaus Wedding

Mitte Juli

Es ist halb sechs an einem Sonntagmorgen. Ich fahre durch die fast leeren Strassen Berlins auf der Suche nach jemanden, der sich für das rote Rad begeistern könnte. Eine ungewöhnliche Tageszeit, aber wer weiß? Da stolpern junge Leute aus einem Club am Holzmarkt, aber die sind zu betrunken und rufen sich ein Taxi. Der Lieferant, die auch am Sonntag die Bäckereien mit frischen Brötchen versorgen, hat sein Auto an der Auguststrasse abgestellt, aber er setzt natürlich auf die vierrädrigen motorisierten Antrieb statt auf von Muskeln übertragene Kraft auf zwei Räder. Und der Spaziergänger, der seinen an der Leine ziehenden Hund am Humboldthain Gassi führt, ist zu sehr mit seinem Smartphone beschäftigt, als dass er sich für mein Fahrrad interessieren könnte. Wer braucht das Rad? Vor ein paar Tagen habe ich den Versuch gemacht und auf ebay Kleinanzeigen eine Annonce erstellt, in der ich das Fahrad zum Tausch angeboten habe. Fast schäme ich mich Elmar gegenüber, weil ich für das Fahrrad einen „Motorroller/Moped/Motorrad“ haben will, ausgerechnet ein Gefährt mit Verbrennungsmotor. Aber bis auf 105 Aufrufe der Anzeige hat sich bislang niemand gemeldet. Kiki wiederum hat gestern zufällig einen Kontakt zu einer Berliner Oper aufgetan, welche uns womöglich ein paar ‚zurückgelassene’ Beleuchtungskörper anbieten könnte – damit würde das Projekt in der Tat zu einem schnellen Ende finden. Also habe ich einen Brief an die entsprechende Beleuchtungsabteilung geschrieben, da derzeit und in den nächsten Wochen aber noch Theaterferien sind, hoffe ich weder auf schnelle noch positive Antwort in den nächsten Tagen. Dabei brauche ich etwas: Anfang August steht die dritte, wenn auch nicht letzte Projektpräsentation in den Uferstudios an, und ich habe keinen neuen Tausch zu vermelden. Die Geschichte um das rote Rad und Elmar habe ich beim letzten Mal schon in Bild und Ton vorgestellt.

Ob der Auftritt bei Radio Eins am 30. Juli hilft?

Als ich an diesem Sonntag Morgen also auf dem Fahrrad durch den Wedding brause und mir der morgendlich noch kühle Fahrtwind durch die Haare weht, fliegt mir förmlich eine Geschichte zu. Sagen wir mal, die Geschichte geht so los: Es ist ein grandioser Sommertag. Der Himmel ist tiefblau, ein paar Wölkchen am Himmel, die Luft ist warm, aber nicht schwül. Es weht eine leichte Brise, die durch die Baumkronen streift und die Grasspitzen in ein sanftes Wogen versetzt. Sagen wir es ist früher Abend, und auch, wenn der Tag keine Rolle spielt, sagen wir es handelt sich um einen Freitag. Das Jahr? Keine Ahnung. Das tut nichts zur Sache. An diesem frühen Freitag Abend (oder späten Freitag Nachmittag) stehen drei Männer vor einer Bar. Ob sie mit dem Auto gekommen sind oder dem Bus oder womit auch immer, ist hier nicht wichtig. Sie kennen sich bereits, alles mittelalte Männer. Normale Männer, nicht besonders schlank, auch nicht besonders unappetitlich. Der eine hat vielleicht mehr von dem einen, der andere dafür mehr von etwas anderem. Alle drei Männer tragen einen Anzug, der beim einen besser, beim anderen nicht so gut sitzt. Sagen wir, es sind Geschäftsleute. Und sagen wir, es handelt sich bei den dreien um einen Reitstallbesitzer, einen Schweinezüchter und einen Direktor eines Molkereibetriebs. Und diese drei Männer treten gerade in eine Bar ein, über deren Eingang ein Schild baumelt, auf dem Grimms Märchen aufgemalt ist. Und wie die Geschichte weiter geht? Kommt am 3. August in das Studio 9 der Uferstudios!