PRACTICE – Performative Research And Choreographic Tools In Contemporary Environments

Das von Peter Stamer entwickelte Format PRACTICE stellte zwischen September und Dezember 2008 der in Berlin ansässigen wie auch der internationalen Tanzszene einen inhaltlich ausgerichteten Residenz- und Arbeitsraum an der Tanzfabrik Berlin zur Verfügung. Darin arbeiteten je drei bis vier ChoreografInnen, TänzerInnen, DramaturgInnen, AutorInnen oder TheoretikerInnen in drei intensiven vier-fünfwöchigen Residenz- und Arbeitsphasen an je einem Thema, das von den TeilnehmerInnen vorgeschlagen wurd. Zwischen den Residenzphasen war der künstlerische Projektleiter in Rücksprache mit den Residenten für Sammlung, Auswertung und Überleitung der Prozesse zuständig und band diese an die vorhergehende wie auch kommende Arbeitsperiode an. Die Projekte erlaubten das gesamte Spektrum künstlerischer oder theoretischer Formen und choreografischer Praktiken.

Das Programm sollte einen für die choreografische Beschäftigung der Berliner Tanzszene nachhaltig produktiven Raum eröffnen für Schaffung und Austausch von Begegnung, Entwicklung gemeinsamer Denk- und Arbeitsprozesse, Choreografische Konzentration, dramaturgische Praktiken, produktiv verzögerte Arbeitsprozesse und Nachhaltigkeit, künstlerisch emergente Wissensproduktion

Für jede Arbeitsphase stellte PRACTICE Projektmittel zur Verfügung, die von den KünstlerInnen nach deren Interessensschwerpunkten eingesetzt werden konnten. Auch die Gestaltung der Arbeitsprotokolle und -methoden oblagen den Projektbeteiligten, deren Aushandlung damit unmittelbare Aufgabe der Auseinandersetzung und Arbeitsweise der Gruppe wurde. Es war ein Grundsatz dieses Programms, dass die Arbeitsphasen größtenteils Publikum, Gästen und Interessierten offen standen, um intensiven Austausch zu gewährleisten. Neben sogenannten Conference Calls als interner Kommunikationsplattform wurden in Public Calls diskursiv und choreografisch formatierte Zwischenschritte veröffentlicht und zur Diskussion gestellt.
Von und mit: WILHELM GROENER, Ami Garmon, Kristina Locke & Ali von Stein, Christina Ciupke & Nik Haffner, Friederike Plafki & Maria F. Scaroni, Isabelle Schad & Simone Aughterlony, Rosalind Goldberg, Laurent Chétouane, Philipp Gehmacher, Matthieu Burner, Jan Burckhardt, Sigal Zouk u.a.

Best PRACTIC. Die Forderungen von TanzkünstlerInnen in den europäischen Städten, in welchen sich zeitgenössischer Tanz in der kulturellen Wahrnehmung eine Nische hat verschaffen können, ähneln sich. ChoreografInnen und TänzerInnen wollen mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werden, um ihre Arbeiten kreieren zu können. Zu diesen Mitteln gehören neben einer adäquaten Finanzierung auch die langfristige Bereitstellung von Arbeitsräumen, die ihnen Freiraum zur künstlerischen Entwicklung gewähren. Es besteht also eine Notwendigkeit, Möglichkeiten künstlerischer Prozesse zu schaffen, die nicht bereits unter die Verfügung ihrer Verwert- und Sichtbarkeit gestellt sind. Der geforderte künstlerische Freiraum steht allerdings einer Marktökonomie gegenüber, welche KünstlerInnen auf die Produktion hauptsächlich von Werken verpflichtet. Diese erst scheinen jene öffentliche Wahrnehmung zu gewährleisten, welche Tanzschaffenden zur Kapitalisierung ihrer Namen benötigen. Damit einher geht allerdings die Gefahr, dass sich die künstlerische Produktion, will sie erfolgreich bestehen können, den Marktgesetzen unterwerfen zu müssen glaubt.

Wir sind jedoch davon überzeugt, dass die Politik der künstlerischen Sichtbarmachung zu kurz greift, wenn darunter lediglich die Aufführung als letzter Referenz- und Zielpunkt choreografischen Arbeitens verstanden wird. Die Berliner Tanzszene benötigt nicht mehr Räumlichkeiten, in welchen EinzelkünstlerInnen ihre Ideen wettbewerbsträchtig für den Tanzmarkt durchkalkulieren, sondern ein Angebot zur Verräumlichung weitreichender Reflexionen. In dem von PRACTICE etablierten Denk-, Arbeits- und Kommunikationsraum wollten wir daher ein praxisbezogenes choreografisches Nachdenken mobilisieren, das sich nicht sofort umsetzen lassen muss in Produkte, die gegen Aufmerksamkeit und Kapital umgemünzt werden.PRACTICE praktisch. PRACTICE („Performative Research And Choreographic Tools In Contemporary Environments“) schuf im Herbst 2008 ein lokales, auf zunächst ein Vierteljahr angelegtes künstlerisches Arbeits- und Residenz-Programm für Berliner und internationale ChoreografInnen/TänzerInnen, das diesen innerhalb ihres künstlerischen Lebensumfelds einen qualifizierten, offenen Denk- und Arbeitsplatz anzubieten versuchte. Das Studioprogramm stand dabei in ständigem Austausch zum gegebenen örtlichen Kontext und den in Berlin lebenden und arbeitenden KünstlerInnen. Die Uferstudios bildeten dabei das ideale Arbeitsumfeld, da sich dort bereits zu dieser Zeit etliche Berliner KünstlerInnen wie auch Tanzorganisationen ansiedelten. Wir wollten von dieser Aufbruchstimmung wichtige Impulse beziehen wie diese auch in den sich neu aufziehenden Kontext zurückgeben zu können. PRACTICE machte sich dabei für sechs programmatische Grundsätze stark, die für die Förderung und Etablierung einer künstlerorientierten tänzerischen, choreografischen und theoretischen Praxis wichtig erschienen.

Raum für gemeinsame Denk- und Arbeitsprozesse. Das Einzelkünstlertum, wie es sich in Berlin, aber auch in anderen Städten Europas als Merkmal zeitgenössischen Tanzes herausgestellt hat, ist etlichen Gegebenheiten geschuldet. Neben einem historisch begründeten Künstlerdiskurs, welcher den kreativen Körper und Kopf als Autor seines Werks zentral stellt, neben Ausbildungsstrukturen, die fast ausschließlich auf Training und Akademisierung des Tänzerkörpers und damit auf dessen Heranbildung als fertiges Subjekt abzielen, spielen hierfür auch ökonomische Gründe eine Rolle. Zum einen ist die Produktion eines Solos gegenüber einer Gruppenarbeit billiger, weil weniger Mittel zu seiner Realisierung aufgewendet werden müssen, zum anderen lassen sich die eingesetzten Mittel besser eintreiben, wenn die angesuchte Künstlerförderung mit einem einzelnen Namen, einem einzelnen Körper identifiziert werden kann. Diese Vermischung von Kunst und Künstlersubjekt hat entsprechend nicht nur ästhetische Folgen gezeitigt, sondern auch Folgen für die Zusammenarbeit und gemeinsame Entwicklung von Arbeiten. PRACTICE wollte der choreografischen Singularisierung ein anderes Bewusstsein für Kollaboration entgegensetzen und einen kollektiven Arbeitsprozess fördern, der die eingeschränkten Sichtweisen und Konzepte von Einzelkünstlern übersteigt. Dessen Auswirkungen sind für die künstlerische Auseinandersetzung fruchtbar, wenn Kollektivität nicht als Summe von singulären Interessen verstanden wird, sondern als ästhetisch und intellektuell emergenter, die Kapitalisierungsverpflichtung überbietender Gruppenvorgang.

Raum für Schaffung und Austausch von Begegnung. Entsprechend stellt sich künstlerischer Austausch erst ein, wenn die Rahmenbedingungen nicht auf pekuniärer Abhängigkeit oder einem tauschwerterzeugenden Verhältnis basieren, sondern wenn die kooperierenden Partner nichts Anderes als ihre Zusammenarbeit ins Spiel einbringen. Wir wollten daher mit PRACTICE die KünstlerInnen mobilisieren und deren Denken und Tun zueinander wie auch subjektübergreifend in ein kritisches, von Differenzerwartung geprägtes Verhältnis setzen. Begegnung ist da möglich, wo im Wissen kommuniziert wird, dass die jeweiligen Positionen nicht mit der eigenen Persönlichkeit verhaftet sind, sondern Übergangszustände innerhalb eines Arbeitsprozesses darstellen. Wir sind davon überzeugt, dass künstlerisch-soziale Begegnung immer in der Bewegung aufeinander zu und nicht in der intellektuellen Fixierung des anderen entsteht. Ästhetische Prozesse können nicht außerhalb von gesellschaftlichen stattfinden; der soziale Körper, seine Zustände, Potenziale werden mit in die Arbeit eingebracht. Gleiches gilt für die Protokolle, mit welchen die KünstlerInnen miteinander verkehren. Künstlerische Umgangsweisen sind immer geprägt von dem, was im Alltag erfahren und erprobt wurde. Die sozialen Protokolle aber, die die sprachliche, emotionale und körperliche Kommunikation regeln, unterstehen kulturellen Annahmen und damit letzlich ethischen Regularien, die sich nicht ausblenden lassen. Damit fließen in den künstlerischen Arbeitsprozess immer der Umgang miteinander, die Verantwortung füreinander, die Haltung zueinander ein, die jedoch nicht lediglich ein Mittel zum Zweck darstellen, sondern künstlerische Prozesse zuallererst ermöglichen. Das ethische Moment, und damit das vielfältige Wissen um den Anderen, bildet die Voraussetzung für das Ästhetische und lässt sich von künstlerischer Produktion nicht ablösen. Diesen Zusammenhang sichtbar und für die Zusammenarbeit fruchtbar zu machen, ihn immer wieder zu untersuchen, haben wir für ein zentrales Momentum von PRACTICE gehalten.

Raum für choreografische Konzentration. PRACTICE sollte den kollektiven künstlerischen Prozess privilegieren, weil wir die Prozessphasen von Tanzkunstproduktion und ihre zugrundeliegenden Bedingungen zu befragen beabsichtigen. In diesem Sinne verstehen wir PRACTICE als Konzentrationsort für KünstlerInnen, ihre Arbeitsweisen, ihre Interessen, ihre Fragen. In diesem Begegnungsraum, der versuchte, die Rückbindung von Ideen, Motiven, Diskursen oder künstlerischen Praktiken an Einzelpersonen und der damit einhergehenden Namenspolitik aufzulösen und den Arbeitsprozess abseits von Vermarktungsgesetzen entwirft, setzen wir auf intensive Kollaborationen zwischen und mit den teilnehmenden KünstlerInnen. Entsprechend wollten wir die einzelnen Arbeitsphasen von PRACTICE nicht auf eine oder zwei Wochen beschränken, sondern mindestens einen vierwöchigen Residenzraum etablieren, in dem die KünstlerInnen aus Berlin sich aufhalten. Nur innerhalb eines länger miteinander geteilten Zeitraums besteht die Chance für individuell-habituelle Besetzungen übersteigende Zusammenarbeit.

Raum zur Etablierung einer dramaturgischen Praxis. Es scheint bislang kaum eine ästhetische oder wahrnehmungsleitende Handhabe zu geben, auf welche Weise künstlerische Prozesse betrachtet, bewertet, besprochen werden können. Entsprechend unterscheiden sich ‚works in progress’ oder ‚showings’, die eigentlich als Prozessöffnungen konzipiert sind, um Arbeiten in statu nasciendi kritisch begleiten zu können, von Bühnenproduktionen nurmehr durch den Grad ihrer Fertigstellung, nicht aber durch ein anderes Denken, welches sich der choreografisch-tänzerischen Entwicklung verpflichtet sieht. In der Auseinandersetzung mit dem Prozessualen fehlt unserer  Meinung nach bislang die Etablierung einer dramaturgischen Praxis, die andere, weiterführende Fragen zu stellen in der Lage ist. Die dramaturgische Begleitung sieht das sogenannte Unfertige nicht unter der Maßgabe eines Noch-nicht-Fertiggestellten, sondern erkennt das Präsentierte selbst in seiner momentanen, spezifischen Verfasstheit. Die DramaturgIn muss gleichermaßen das zur Betrachtung Gegebene wie auch das dem Blick Verborgene eines Prozesses sehen können. Ihre Aufgabe ist es, in Zusammenarbeit mit der KünstlerIn das Gezeigte auf seine choreografischen, theatralen oder medialen Bedingungen, unter welchen die Präsentation hat entstehen können, zu befragen. Der dramaturgische Blick von außen, der sich nicht nur auf die Arbeitsfunktion des Dramaturgen beschränkt, sondern eine im choreografischen Prozess angelegte Perspektive meint, die von allen beteiligten Akteuren eingenommen werden kann, muss auf diese Vorformatierungen aufmerksam machen. Unter diesem Aspekt verstand PRACTICE die dramaturgische Begleitung als eine gemeinsam geteilte Verantwortung, die aus dieser Sozialität heraus erkenntnisfördernde, partizipative Blicke auf den künstlerischen Prozess selbst zu werfen in der Lage ist.

Raum für Inkubation, Nachhaltigkeit und verzögerte Produktivität. Künstlerische Arbeit unterliegt anderen Arbeitsbedingungen, als sich diese im ökonomischen Verständnis fassen lassen. Die Relation von In- und Output, die als Gradmesser für Arbeitseffizienz herangezogen wird, ist nicht auf künstlerische Vorgänge zu übertragen. Während Produktivität im volks- und betriebswirtschaftlichen Diskurs die Herstellung von Mehrwerten meint, erscheint künstlerische Arbeit dann produktiv, wenn sie lediglich auf ihren eigenen Gebrauchswert setzt. Dieser ist unabhängig von dem Wirkungsgrad des künstlerischen Outputs, wie er sich in der vermarktbaren Aufführung niederschlägt. Vielmehr stellen sich die Effekte künstlerischer Arbeit in den am Prozess Beteiligten immer verzögert ein. Diese Verzögerung, für welche der Arbeitsforscher Manfred Füllsack den Begriff der ‚delayed productivity’ vorschlägt, setzt auf den Gedanken der Investition, die sich zu einem unbekannten Zeitpunkt erst amortisiert. Der Erfolg von Arbeitsprozessen lässt sich nicht länger an deren unmittelbarer Effizienz messen, sondern an ihren langfristigen Auswirkungen. ‘Delayed productivity’, wie wir sie für PRACTICE angestrebt haben, basiert nach unserer Vorstellung auf Austausch von unkalkulierbaren und unverfügbaren künstlerischen, sozialen, kollaborativen Werten, deren Maximierung gerade nicht abschätzbar ist. Nur so ist Konzentration auf den Augenblick des Austausches möglich, wenn dieser nicht nach seinen möglichen Verwertbarkeiten fragt. Über die Inkubationen in den Residenz- und Arbeitsphasen sollte dieser Aufschub die partizipierenden KünstlerInnen zu weiterführenden Auseinandersetzungen anstecken und auf diese Weise nachhaltig in die Stadt wirken.

Raum für emergente Wissensproduktion als choreografische Praxis. PRACTICE geht von einem besonderen Verständnis künstlerischer Wissensproduktion aus. Der Ort, an dem Wissen produziert wird, bildet nicht einfach nur ein formales Gefäß, in welchem Wissen entsteht. Die Materialität der ortsbezogenen, topischen Qualität der Wissenspraxis ist vielmehr selbst von spezifischen Wissensweisen durchlaufen, die der Wissensproduktion als ihr performatives, ästhetisches Mehr anhängt. Daher haben wir PRACTICE als Raum verstanden, in welchem durch künstlerische Arbeit Wissen produziert wird. Die Schaffung von Wissen fassen wir damit als eine zugleich künstlerische und diskursive Praxis auf, die am Ort der Produktion durchzirkuliert. Dieser Raum schließt die Körper der choreografisch Recherchierenden ein; PRACTICE verortet aus künstlerischer Recherche generiertes Wissen vor allem im Körper selbst. Dieses, als topisch bezeichenbare Wissen ist im Gegensatz zur Schrift, die medial und materiell hochgradig flexibel ist, doppelt ortsgebunden, sowohl an den Ort seiner Entstehung als auch an den Ort seiner Speicherung. Reden und Denken sind unserer Überzeugung nach im Körper situierte Sinnstiftungen, in einem Verständnis von Reflexion, welche die Beugung der Gedanken mit dem Körper kurzschließt. Aus der wechselseitigen Besetzung von Diskurs und Körper, von Intellekt und Fleisch, von Sinn und Sinnlichkeit haben die Diskurse und Praktiken in und um Tanz in PRACTICE ihre entscheidenden Stichworte bezogen und sollten Wissen an dem Ort bewahren, an welchem es geschaffen wird. Unter diesem Ort verstanden wir in einem erweiterten Sinne ganz emphatisch die Stadt Berlin und ihre Szene.