Rechercheprojekt im Rahmen von NEUSTART KULTUR: #TakeHeart

“13 Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Drei davon mussten auf dem Weingut meiner Großeltern arbeiten. Sie hießen Ranka, Ivan und Peronje.

Seit Beginn des Krieges wurden für die deutsche Wirtschaft Kriegsgefangene oder Häftlinge für Zwangsarbeit ausgebeutet und geknechtet. Himmlers sogenannter Ostarbeiter-Erlass vom Februar 1942 hat diesem Verbrechen noch eine weitere, schändliche Dimension hinzugefügt. Er ließ Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion entführen und nach Deutschland bringen, um sie dort in Schwerindustrie oder Landwirtschaft Sklavenarbeit verrichten zu lassen. Sie sollten die in den Krieg eingezogenen Männer ersetzen: Während mein Großvater in Afrika für den Endsieg kämpfte, schufteten Ivan, Ranka und Peronje mehrere tausend Kilometer fern ihrer Heimat auf seinem Weingut in Frankweiler in der Pfalz.

Das Weingut meiner Großeltern gibt es nicht mehr. Es wurde, nachdem mein Großvater keinen Sohn hatte und die Töchter den Betrieb nicht weiterführen wollten oder konnten, nach und nach verkauft. Ein bisschen ‘Land’, wie man in meiner Heimat sagt, hat meine Mutter noch im Besitz, das ich irgendwann erben werde. Seitdem ich um die Vergangenheit weiß, frage ich mich aber, ob die Zwangsarbeiter auch dieses Feld beackert, mit meiner Großmutter die Furchen gezogen, Reben gesetzt, Pflöcke eingeschlagen haben.

Und plötzlich wird der Ort, in dem ich groß geworden bin, die Wege, die ich gegangen bin, die Luft, die ich geatmet habe, zu einem merkwürdig schiefen Erinnerungsraum, in dem sich meine Kindheitserinnerungen mit jenen von Menschen überlagern, die ich nie kennengelernt habe, die aber gezwungener-maßen zur Geschichte meiner Familie und damit meiner Geschichte beige-tragen haben.

Als Theatermacher erzähle ich Geschichten über Menschen, bin auf der Suche nach Menschen mit Geschichte. Mir war lange nicht klar, dass ich Teil einer Geschichte bin, die mich betrifft, von der ich betroffen bin, von der ich noch nicht weiß, wie und ob ich sie erzählen kann. Ich will nun wissen, was aus diesen Menschen, deren Nachnamen ich noch nicht einmal kenne, geworden ist. Ich will wissen, ob ich etwas über sie während ihrer Zeit als Zwangs-arbeiter*innen in Erfahrung bringen kann. Ich will wissen, ob sie es in die Sowjetunion zurückgeschafft haben, ob sie den stalinistischen Terror, dem sie womöglich als sogenannte Kollaborateure ausgesetzt waren, überlebt haben, ob sie Familien gegründet haben, ob sie Kinder und Enkelkinder in die Welt gesetzt haben, ich will wissen, ob es Nachfahren dieser drei in meinem Alter gibt, einen Menschen, mit dem ich eine Vergangenheit teile, die uns auf eine unheimliche Weise verbindet. Ich will wissen, wieviel ICH in dieser GeschICHte steckt.”

Februar 2022

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