Was ist ein künstlerisches Labor? (2007)

Ein Metalog zwischen Peter Stamer und Peter Stamer

Was ist produktiv an Art Laboratories? Während die Ästhetik sich mit der Frage beschäftigt, wie sie das nicht-diskursiv Vorliegende der Kunst diskursiv fassen, es in Sprache übersetzen kann und damit notwendig die Kunstpraxis als das dem Diskurs Andere definiert, versucht das Art laboratory dieses Unsagbare der Kunst für den wissenschaftlichen Forschungsprozess einerseits und für künstlerische Produktivität andererseits fruchtbar zumachen und in die eigene Diskurspraxis zu integrieren. Nach etwa zehnjähriger Konjunktur dieses Formats in der zeitgenössischen Kunst wird der Beitrag versuchen, die Grundbedingungen des Art laboratory historisch aufzuarbeiten und seine Produktivität in Kunst und Wissenschaft zu überprüfen.

PS: Peter Stamer und ich sind heute eingeladen worden, damit wir uns um die Frage kümmern, was ein künstlerisches Labor ist. Und ich muss ihnen sagen, dass ich schon sehr gespannt bin, ob unser Gespräch überhaupt zu etwas Wissenswertem führt.

PS: Da stellt sich doch sofort die Frage, welches Wissen denn wissenswert wäre?

PS: Zu wissen, was ein künstlerisches Labor ist. Oder besser, welche Art von Wissen das künstlerische Labor produziert.

PS: Muss das hier sein bei diesem Anlass? Und wieso brauchst du mich in deinem Text? Nimm doch jemand Anderes…

PS: Na ja, weil ich den Eindruck habe, dass die Form des Dialogs irgendetwas mit der Wissensproduktion im künstlerischen Laboratorium zu tun hat. Ich spreche mit dir und antworte dabei auf deine Fragen, die ja auch meine sind.

PS: Und ich bleib schön brav in deinem Text. Verstehe. Das klingt nun ein bisschen nach einer Arbeit von Xavier Le Roy, dem französischen Choreografen und promoviertem Molekularbiologen. In seinem Projekt Self-Interview aus dem Jahr 1999, Du wirst dich erinnern, spricht er mit seiner eigenen Stimme, die er vorher mit einem Kassettenrekorder aufgezeichnet hat. Er spricht mit seiner eigenen Stimme mit seiner eigenen Stimme über die Hintergründe seines Projekts E.X.T.E.N.T.IO.N.S. Er reflektiert an sich selbst die Entstehungsbedingungen – und denkt gewissermaßen öffentlich, performativ nach. Xaviers Denklaboratorium, eine Aufführung. Daran war auffällig, dass die antwortende Stimme ihre Repliken häufig mit ‚I don’t know’ beginnt, als wisse sie nicht, was sie innerhalb dieses Gesprächs sagen solle. Sie täuscht einfach Nichtwissen vor.

PS: Im Gegensatz zu dir, oder? Du weißt ja alles besser. Aber ich erinnere mich. Die Stimme sagt, ja sie weiß, dass sie nichts weiß. Wie bei den sokratischen Dialogen, in welchen Platon seinen Vordenker Sokrates auf den Schüler Theaitetos treffen lässt. Der Alte und der Junge verplaudern sich ein wenig über die Möglichkeiten von Wissen, bis Sokrates irgendwann den Jungen im Verlauf der Unterredung mit dieser Frage hier konfrontiert: „Gerade das ist es aber, worin ich im unklaren bin und was ich nicht recht begreifen kann: was denn eigentlich Wissen ist.“ Jedoch finden die Gesprächspartner keine abschließende Antwort darauf. Obwohl sie nichts Anderes tun, als die Möglichkeiten von Wissen-Können im Kopf hin und herzuwenden. Der Kopf von Sokrates, die perfekte Hebamme der Gedanken seines Gesprächspartners anderen, kreißt selbst kein endgültiges Wissen darüber, was Wissen eigentlich sei.

PS: Die Redner wissen aber zumindest, auf welche Weise sie sich ihrem Wissen-Wollen annähern. Im Dialog nämlich, in welchem sie das ‚Wissen des Wie’ unaufhörlich in Fragen kleiden. Dadurch streicht ‚Theaitetos’ das Dialogische der Reflexion heraus. Mehr aber noch ist die Reflexion des Dialogischen, das Nachdenken über das Wie erkenntnistheoretisch von Bedeutung.

PS: Für solche selbst-reflektierenden Gespräche schlägt der Anthropologe Gregory Bateson übrigens den Begriff des Metalogs vor. Er schreibt: „Ein Metalog ist ein Gespräch über ein problematisches Thema. In diesem Gespräch sollten die Teilnehmer nicht nur das Problem diskutieren, sondern die Struktur des Gesprächs als Ganzes sollte auch für eben dieses Thema relevant sein.“

PS: Ich lese das so, dass der Dialog selbst nicht nur ein feststehendes Textformat ist, das etwa wie ein Gefäß den Inhalt zu fassen versucht, sondern Diskurse selbst in Bewegung setzt, Nachdenken produziert. Die Bedingungen, unter welchen Wissen im Dialog auf den Weg gebracht wird, noch mitbetrachtet. Da sich das Wort Diskurs nämlich aus dem Lateinischen ‚discurrere’ ableiten lässt, was soviel wie hin- und herlaufen bedeutet.

PS: Richtig. Darum habe ich dich also zu meinem diskursiven Laufpartner ausgewählt, mit dem ich gemeinsam diese Wegstrecke zu einem Mehr an Wissen zurücklege. Zurück zu Bateson.  Der schreibt nun in seinem Buch Ökologie des Geistes einige Metaloge, eigentlich Gespräche  zwischen ‚Vater’ und ‚Tochter’. Das ist so etwas wie die Wendung des sokratischen Lehrer-Schüler-Verhältnis in das Familiäre. Jedenfalls fragt das Mädchen in einem dieser Metaloge seinen Papi, wie viel er denn wisse. Papi meint darauf, dass Wissen nun nicht direkt messbar sei, es hat ja keine Größe, kein Gewicht. Aber je länger er sich mit dieser Frage nach dem Maß seines Wissens beschäftigt, je mehr Denkpositionen er innerhalb des Metalogs  einnimmt, umso deutlicher stellt sich heraus, wie viel ‚Papi’ oder der Autor der Papi-Zeilen letztlich dann doch weiß. Er weiß nämlich eine ganze Menge darüber, wie sehr Nachdenken nur innerhalb eines übergreifenden Systems zielführend ist. „Worüber wir nachdenken müssen ist, wie die Wissensstücke miteinander verwoben sind,“ sagt Papi. Und mit dieser Frage nach der Verwebung der Wissensstücke definiert er einen kulturellen Wissensbegriff …

PS: … auf  den sich auch die Soziologin Karin Knorr Cetina in ihrem Buch Wissenskulturen bezieht. In diesem Buch versucht sie herauszufinden, Zitat: „wie wir wissen, was wir wissen“. Die Wissenschaftlerin definiert darin Wissenskulturen als „Kulturen von Wissenskontexten“, die je spezifisch in epistemischen Kulturen differenziert sind. Wie also etwas gewusst werden kann, obliegt dem jeweiligen Kontext, in welchem Wissen entsteht und ausgeübt wird. Knorr Cetina stützt ihren Kulturbegriff auf den Anthropologen Clifford Geertz, wonach Kultur „ein System überkommener Vorstellungen ist, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“. Wissen-Können ist hier weniger ein Vermögen eines intelligenten Subjekts, als vielmehr eine Bedingung der kulturellen Möglichkeit. Was und auf welche Weise etwas gewusst werden kann, hängt von den Konditionen ab, unter welchen ein mögliches Wissen wahrheitsfähig ist. Diese Bedingungen strukturieren das Wissen und die Erfahrung einer Kultur, die dem jeweiligen Redner, Theoretiker oder Wissenschaftler aber nicht bewusst sind.

PS: So wie du hier von etwas spricht, von dem du am allerwenigsten weißt. Schließlich bist du ja nicht einmal du selbst. Wie auch immer. Zurück zu Knorr Cetina. Innerhalb der sozialen Webart der Kultur, die alle Sprecher eines Zeitraums miteinander teilen, gibt es verschiedene Feindifferenzierungen. Das sind eben jene epistemischen Kulturen, von denen Knorr Cetina spricht, wenn sie in ihrem Buch die Wissensweisen der Laborkultur auf dem Gebiet der Mikrobiologie und Hochenergiephysik untersucht. Wissenschaftliche Labore schöpfen demnach ihre epistemische Wirksamkeit aus den Differenzen zu der sie umgebenden Umwelt.

(Pause)

PS: Das klingt mir alles zu kompliziert. Wenn du nun jemandem erklären müsstest, der überhaupt nichts davon weiß, wie würdest du die Frage beantworten: Was ist ein Labor?

PS: Ich fürchte, ich kann es uns gerade nicht einfach machen. Also, wenn es stimmt, dass die Verknüpfung von kulturellen Kontexten darüber entscheidet, wie und was von etwas gewusst werden kann, bringt jeder ein Vorwissen und damit eine Voreinstellung in seine Frage mit ein, weil wir alle im gleichen kulturellen Hintergrund verwoben sind. Nichts von etwas wissen, ist also unmöglich. Wenn ich nun sage, das künstlerische Laboratorium ist ein wichtiges Forschungsinstrument für zeitgenössischen Tanz, dann habe ich bereits mehr als eine Proposition, die ich setze. Ich brauche zum Beispiel eine Vorstellung von dem, was ich der Einfachheit halber zeitgenössischer Tanz genannt habe. Entsprechend bewege ich mich immer schon in einem Kontext, über den ich mich verständige, um die Besonderheiten der epistemischen Kultur, wie sie zeitgenössischer Tanz meiner Meinung nach darstellt, ausführen zu können.

PS: Kannst du vielleicht zu beschreiben versuchen, was du unter Forschung im zeitgenössischen Tanz verstehst?

PS: Forschung beginnt zunächst ganz grundlegend mit dem Interesse an Erkenntnisgewinn, wie auch immer dieser aussieht. Ich muss eine Frage haben, die mich beschäftigt, die mich unaufhörlich begleitet, die mein Sehen, meine Wahrnehmung, meine Praxis informiert.

PS: Und kannst du mir ein Beispiel für so eine Frage geben, hast du ein Fragebeispiel?

PS: Warte. Ich habe nämlich nun ein ganz anderes logisches Problem, wenn ich von der Antwort her die Frage formuliere. Wenn ich z.b. frage, dreht sich die Erde von Ost nach West oder von West nach Ost, dann steckt in dieser Frage sofort das Wissen, dass sie sich dreht und noch dazu in eine, und nur eine Richtung. Andere Antworten werden von dieser Frage von vorneherein ausgeschlossen.

PS: Jede Frage formuliert ja bereits ihre Antwort mit.

PS: Richtig. Wie kann ich aber Antworten finden, die von der Frage, paradox gesagt, ausgeschlossen sind? Und das ist, würde ich sagen, das Forschungsparadigma des künstlerischen Labors. Dieses sucht nach Antworten, die von der Frage im Grunde nicht berücksichtigt sind, Gibt unmögliche Antworten auf mögliche Fragen. Zu jeder Frage immer eine neue, unbeantwortbare hin, weniger aber, um sie auf potenzielle Antworten hin zuzuspitzen, sondern um die Frage als Erkenntnisinstrument zu schärfen. Nicht die Suche nach etwas bestimmt zeitgenössischen Research, sondern die Suche wird zum Gegenstand selbst.

(Pause)

PS: Das klingt nun ein wenig esoterisch, um ehrlich zu sein.

PS: Kennst du die Geschichte von der Entdeckung des Post-Its?

PS: Den klebenden Notizzetteln?

PS: Die Anekdote dazu geht so, dass ein gewisser Spencer Silver einen Superkleber erfinden wollte, er aber im Labor nur eine klebrige Masse hinbekam. Die mit dieser Masse verklebten Dinge hielten nur für kurze Zeit, sie ließen sich gleich wieder ablösen. Ein paar Jahre später suchte ein Kollege von ihm nach einer Möglichkeit, Notizzettel in seinem Gesangbuch zu fixieren, ohne gleich die ganze Seite zu verkleben. Er erinnerte sich an die damals nicht gelungene Erfindung von Silver und hat sie noch einmal unter die Lupe genommen; nach ein paar Laborversuchen und Testreihen war dann das Post-it geboren.

PS: Achtung, ich weiß etwas: „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist“, soll der Bakteriologe Louis Pasteur irgendwo einmal gesagt haben.

PS: Spencer Silver, der gescheiterte Superklebererfinder, hat im Grunde das Post-It entdeckt, ohne es entdecken zu wollen. Sein ganz persönlicher Kolumbuseffekt, der eine ganz neue Welt auftat. Fährt nach Indien und entdeckt Amerika. Erkenntnistheoretisch betrachtet nennt man diese Effekt serendipity. Es handelt sich dabei um eine Form von Wissen, das nicht Ergebnis einer zielgerichteten Forschung ist, sondern ein erst später geschätztes Abfallprodukt eines vermeintlich falschen Versuchsaufbaus ist – oder einer nicht gelungenen Antwort auf die Frage.

PS: Um meine Frage nun also selbst zu befragen: Die Frage ‚Was ist ein Labor?’ bleibt gerade dann erkenntnistheoretisch produktiv, wenn sie nicht beantwortet wird.

(Pause)

PS: Warum aber ist eine solche Frage dann forschungsorientiert?

PS: Eben weil sie die Frage nach der Frage stellt. Da muss ich vielleicht ein wenig mehr ausholen. 1999 ziehen die beiden Kuratoren Hans Ulrich Obrist und Barbara Vanderlinden in Antwerpen ein urbanes Ausstellungsprojekt auf, dem sie den Namen LABORATORIUM geben. Sie haben in ihren Veranstaltungen die verschiedensten öffentlichen Arbeitsstätten wie Polizeiwache, Hafen oder Zoo als Produktionsorte von sozial spezifischem Wissen betrachtet. Diese haben sie für künstlerische Interventionen, choreografische Proben oder Spielformen geöffnet. Dem Katalog zu diesem Projekt stellten die Autoren ein halb ironisches, halb paradoxes Motto voran: „Laboratorium is the answer. What is the question?“. What is the question. Das bedeutet soviel, dass ein Laboratorium nun nicht die letzte Antwort bereitstellt, sondern zuallererst Fragen ermöglicht. Das Laboratorium stellt das Bedingungsgefüge dar, im besten Sinne das erkenntnistheoretische Dispositiv, welches Suchfragen überhaupt erst möglich macht.

PS: Das Fragen ist hier also gleichbedeutend mit Research, dessen Kontext im Falle von LABORATORIUM die soziale Verwebung der Produktion von Kunst und Wissen ist. Wir haben vorhin schon über die Verbindung von Wissen und Kultur gesprochen. Entsprechend haben die Fragen der Kunst auch Relevanz in gesellschaftlichen Zusammenhängen.

PS: Und umgekehrt werden soziale Prozesse und Aushandlungen verstärkt in ihren Wirkungsweisen für künstlerische Fragestellungen betrachtet. Die Gruppe, das soziale Gefüge, in welcher Kunst produziert wird, ist nicht einfach neutral, sie ist selbst von der Kultur, aus der sie stammt, durchlaufen, und diese Erfahrungen werden in LABORATORIUM in die künstlerischen Prozesse zurückgespeist.

PS: Wo aber treffen Forschung und Laboratorium im zeitgenössischen Tanz aufeinander? Denn soweit ich das verstehe, handelte es sich beim Antwerpener LABORATORIUM um ein urbanes Ausstellungsprojekt, nicht aber um eine Forschungsveranstaltung?

PS: In Antwerpen haben auch Choreografen wie Meg Stuart oder Xavier Le Roy teilgenommen. Während Meg Stuart dort zur mehrwöchigen Bewegungserforschung in ihr Choreographic Laboratory geladen hat, arbeitete Le Roy in Antwerpen an seinem Spiel-Projekt E.x.t.e.n.s.i.o.n.s.

PS: Und da Le Roy als einer der Hauptexponenten des zeitgenössischen Tanzes gilt und mit seiner Lecture-Performance Product of Circumstance gezeigt hat, dass es in seiner Biografie eine erkenntnistheoretische Verbindung zwischen seiner Ausbildung zum promovierten Mikrobiologen und zum Tänzer gibt, bietet sich folglich seine Stiftungsanekdote für den Kurzschluss von Forschung und Laboratorium an. Nach dem Motto: Einmal Forscher, immer Forscher.

PS: Zumindest wurde Le Roy in der Folge immer als Gewährsmann genannt, wenn es darum ging, die Wichtigkeit von Forschung in zeitgenössischem Tanz zu unterstreichen.

PS: Einmal im Labor, immer im Labor. Das beginnt mir jetzt Spaß zu machen.

PS: Ja doch. Plötzlich wird Ende der 90er Jahre Tanz intellektuell, produziert eigenes Wissen und kann dieses Wissen auch noch entäußern. An dieser Schwelle von Kunstpraxis zu Wissensproduktion jedenfalls taucht das Laboratorium als Forschungsformat zum richtigen Zeitpunkt auf. Zeitgenössischer Tanz ist da bereits auf dem Weg, eine eigene epistemische Kultur in der Wissensgesellschaft zu werden. Mittlerweise kursiert eine gut gemeinte Vorstellung von Labor als „tatsächlichem Freiraum für die KünstlerInnen“, der „die Grenzen zwischen Produktion und Präsentation auflöst“. So jedenfalls das Tanzquartier Wien in seinem Mission statement 2001 über seine Research-Verpflichtung. In Wien, aber auch anderswo soll das Labor also grenzenlos Wissen produzieren können.

PS: Wenn du das „gut gemeint“ nennst, bist du jetzt ironisch, oder? Eigentlich willst du sagen, dass die von dir zitierte Vorstellung von künstlerischer Freiheit einer Idee von Wissenschaftlichkeit aufsitzt, die suggeriert, dass nur Forschung, die wirklichkeitsabgeschottet im Labortheater mit sich spielt, Wissenschaft genannt werden kann?

PS: Du hast es total erfasst. Und weil darin eine Auffassung von Labor in Anschlag gebracht wird, die als überholt gelten kann. Selbst das Labor in der Naturwissenschaft kann nicht länger als der neutrale Ort reiner Erkenntnisfreude verstanden werden, an welchem Forschergenies handlungsentlastet und freiheitsemphatisch an Grundlagen herumforschen. Im Gegenteil betont Karin Knorr Cetina, einmal mehr in ihrem Buch Wissenskulturen, die Wichtigkeit des nur aus seiner Sozialität und Körperlichkeit verstehen und wahrnehmen könnenden Körpers des Forschenden. Wissenschaftliche Labore stehen eben nicht außerhalb von sozialen Ordnungen, sie sind vielmehr inmitten von diesen, weil sie das Soziale in die Arbeit integrieren und dort mit ihm umgehen müssen.

PS: Wie weit trägt die Metapher des Freiraums dann eigentlich, wenn man sie wörtlich liest? Ich meines, handelt es sich beim Frei-Raum des Laboratoriums um einen Ort, tatsächlich im räumlichen Sinne?

PS: Da muss ich noch einmal auf LABORATORIUM zurückkommen. Okay. Die Produktion von Wissen wird im Antwerpener Projekt als örtlich gebunden verstanden. Es ist situiert, um einen Begriff der Naturwissenschaftlerin Donna Haraway aufzugreifen. Die jeweiligen sozialen Labore produzieren Wissen an Orten, „where knowledge and culture are made.” Daraus speist sich entsprechend ein Grundgedanke des künstlerischen Labors. Der entscheidende Schritt liegt damit im Versuch, nicht nur den Ort der Wissensproduktion künstlerisch und diskursiv zu lokalisieren, sondern umgekehrt auch den unterlegten Wissensbegriff topografisch zu bestimmen. Wenn man diese Gedankenfigur übernimmt, dann kann man sagen, dass ein Labor nicht eigentlich nur ein Raum ist, in welchem die Forschenden unter den gegebenen sozialen Bedingungen Wissen produzieren. Viel eher ist es ein im Forscherkörper situierter Denkraum, eine Art Wissens-Black Box.

PS: Das heißt, dieser Denkraum ist in den Körpern der Forschenden eingeschlossen.

PS: Der Denkraum ist ohne Körper nicht möglich, so simpel es klingt. Dieses Verständnis eines im Körper geborgenen Research hat nun aber nichts mit einem Versuch zu tun, die Wahrheit der Körper zu authentifizieren. Vielmehr handeln die Körper die Wahrheitsbedingungen, wie sie in einer gegebenen Kultur möglich sind, miteinander aus. Denn die am Research beteiligten Körper sind von allen Diskursen und Praktiken der Gesellschaft infiltriert, die sie ins Labor miteinbringen. Sie teilen mit anderen Körpern also das gleiche kulturelle Wissen, das jeder allerdings individuell prozessiert. Knorr Cetina nennt dieses Wissen auch„tacit knowledge“. Dieses Tacit knowledge bleibt zunächst unausgesprochen, wird aber immer in den Erkenntnisinteressen, die in Fragen gekleidet sind, mitgeteilt.

PS: Das verstehe ich nicht ganz.

PS: Im Denkraum Labor treffen zwar in den Körpern die gleichen kulturellen Erfahrungen und Wissensweisen aufeinander, wie die Akteure mit diesen aber umgehen, ist dem einzelnen Subjekt vorbehalten. Dieser individuelle Umgang mit dem im Körper verorteten, bislang verschwiegenen Wissen wird erst mitteilbar, wenn es in Sprache gefasst werden soll. Die Frage ist nicht, ob dieses stumme Wissen überhaupt gesagt werden kann, sondern, welche Verhandlungen die am Labor Beteiligten anstrengen, um dieses mitzuteilen. Diese Mitteilungsabsichten oder Kommunikationsversuche situieren Wissen am Ort des Labors.

PS: Heißt: Research verortet sich erst zu einem Denkraum, wenn dieser gemeinsam von mehreren Menschen in der beständigen Umformulierung von Fragen geteilt wird.

PS: Ein Beispiel: Für den Tanzkongress 2006 habe ich ein Labor angeregt, das über drei Tage Fragen der Wissensproduktion untersuchen sollte.

PS: Ich hab davon gehört, schließlich war ich ja damals schon mit dir verbandelt...

PS: Neben mir (und dir halt auch) waren daran Karin Knorr Cetina, Franz Anton Cramer, Tino Sehgal, Christine Standfest und Christina Thurner beteiligt. Diskutieren wollten wir die „epistemologischen Grundlagen und diskursiven Bedingungen, unter welchen die Kongressmodule Wissen schaffen und präsentieren sollten“. Als Real-Time-Arbeitsformat hatte es den zugegebenen nicht ganz unproblematischen Titel ‚Sans Papiers’. Mich hat für dieses Arbeitsformat nun ein Sprechen interessiert, das im Wortsinne ‚ohne Papier’, ohne schriftliche Referenzen, ohne Absicherung durch Fußnoten auskommen sollte. Das war umso schwieriger, weil das gemeinsame Denken im Labor in jeder Minute öffentlich war. Wir sechs saßen an einem Tisch, während die Zuhörer an der Wand platziert waren und lauschten.

PS: Das Auditorium durfte nicht mitdiskutieren?

PS: Eine der beiden Grundvereinbarungen von ‚Sans Papiers’ war, dass die Gruppe ausschließlich untereinander kommuniziert. Diese Trennung in Sprecher und Zuhörer hatte noch einen anderen Effekt. Die Zuhörer haben uns dabei beobachtet, wie wir uns unseren Gedanken angenähert haben. Ihre Blicke haben das Set-up des Formats gewissermaßen laboratorisiert, weil sie, Wissenschaftlern gleich, uns in unseren Aushandlungen beobachtet haben.

PS: Und damit die Redebeiträge am Tisch, das erkenntnistheoretische Suchen und Versuchen selbst als epistemischen Gegenstand begriffen, über welchen Wissen sichtbar wird. Was war nochmal die zweite Grundvereinbarung?

PS: Eben unser buchstäbliches Sprechen ohne Papier. Auf dem Tisch lag tatsächlich kein einziges Papier, niemand sollte sich Notizen machen können und auf diese als Erinnerungsstütze zurückgreifen können. Unser Untersuchungsgegenstand, wenn man so will, war zwar der Kongress, dessen grundlegenden Wissensannahmen und seine Wissensbilder, die sich darin reflektierten. Aber gleichzeitig hatten wir uns keine Untersuchungsmethode zurechtgelegt, wie wir diesen Gegenstand untersuchen wollten – bis auf ein Sprechen, dessen Regeln innerhalb der Gruppe im Sprechen selbst ausgehandelt wurde: Auf welche Weise adressiere ich den anderen? Was sind meine Fragen an ihn? Wie sprechen miteinander? In dieser Ethik des Gesprächs miteinander, im sozialen Umgang miteinander entwirft sich die Methodologie von Research.

(Pause mit Musik)

PS: Ich verstehe das also so, dass dieses Sprechen nicht länger den Versuch unternommen hat, eine Beschreibung eines Gegenstands zu finden, die dann Wissen über diesen Gegenstand schaffen würde, sondern dass euer Sprechen selbst diesen Sachverhalt bildete.

PS: Wir haben ‚das Labor’ gesprochen, und damit seine Wissensweisen, Erkenntnisstrategien, eben seine epistemische Kultur selbst produziert, hergestellt. Ja. So.  

PS: Das klingt jetzt in meinen Ohren, als würde man Sprache von seiner Referenzfunktion abkappen. Kennst du Jonathan Swifts Satire über die Wissenschaft aus ‚Gullivers Reisen’? Im dritten Buch besucht Gulliver die große Akademie von Lagado. Dort trifft er auf Wissenschaftler, die die Sprache abschaffen wollen, weil diese lediglich Wörter für Dinge bereitstelle und es daher für die Kommunikation eindeutiger und unmissverständlicher sei, die Dinge selbst mit sich herumzutragen. Die stehen also für sich selbst. Swift gießt in der Folge natürlich seinen Spott über zwei besonders gescheite Wissenschaftlier aus, die Gulliver in den Straßen der Insel antrifft, die werden nämlich unter dem Gewicht ihrer Wortpakete fast erdrückt. Weil: Je mehr jemand weiß, je mehr er dieses Wissen sagen will, umso mehr muss er mit sich herumschleppen, umso größer ist seine Last.

PS: Der Intellektuelle bildet dann also auch seinen Body, ist doch gut. Die Bildungsakademie, eine Forschungseinrichtung, die daran arbeitet, das Leben nicht leichter, sondern buchstäblich schwerer zu machen.

PS: Genau. Mit jedem Buchstaben mehr erhöht sich das Gewicht der Wortdinge, die Last der Wörter. Und bei ‚Sans Papiers’ habt ihr, scheint mir, die Wörter nun herumgetragen, als seien sie Dinge, die vor Ort ihr Gewicht entwickelt haben. Ein Gewicht der Wörter, unter dem die Nutzer ins Schwanken kommen, hin- und herschwanken und zu diskurrieren beginnen.

PS: Der etymologische Ursprung des Wortes Laboratorium, abgeleitet vom Lateinischen ‚laborare’ bedeutet ja auch tatsächlich ‚unter einer schweren Last schwanken’.

(Pause)

PS: Wie viele schwankende Meter dieses Metalogs haben wir nun eigentlich bewältigt bei der Befragung meiner Ausgangsfrage ‚Was ist ein künstlerisches Labor’?

PS: Darf ich’s sagen? Ich denke, wir sind ein ziemliches Stück vorangekommen. Wir haben uns mit dem Metalog eine Methodologie ausgehandelt, die einerseits den Dialog als Prozess der Wissensschaffung ernst nimmt, andererseits den Dialog als Wissensformat selbst in den Blick nimmt. Und im dialogischen Driften, ganz dem Serendipity-Prinzip vertrauend, in unserer diskursiven Abdrift des erkenntnistheoretischen Zufalls, über den kleinen Umweg zum Ethischen als Aushandlung von sozialen Protokollen, sind wir unbemerkt auf einen neuen Arbeitsbegriff gestoßen, der anscheinend im Labor am Werk ist. Eine Arbeit nämlich, die weniger auf Produktivität abzielt, als vielmehr auf deren Aufschub setzt.

PS: Du meinst, weil es bei ‚Sans Papiers’ keine verwertbaren Ergebnisse gegeben hat, die man hätte aufschreiben können? Gerade weil das Labor als Arbeitsformat zwar das Feld des Wissens beackert, diesem aber keine Ernte abgewinnt?

PS: Es scheint doch so zu sein, dass die Relation von In- und Output, die als Gradmesser für ökonomische Arbeitseffizienz herangezogen wird, nicht auf dieses Format zu übertragen ist. Während Produktivität im volks- und betriebswirtschaftlichen Diskurs die Herstellung von Mehrwerten meint, erscheint im Labor Wissensarbeit dann gerade als produktiv, wenn sie lediglich auf ihren eigenen Gebrauchswert setzt.

PS: Also auf ein Wissen, das gerade anfällt und für den Denkmoment relevant ist.

PS: Und der Erfolg dieser Arbeitsprozesse lässt sich nicht länger an deren unmittelbarer Effizienz messen, sondern an ihren langfristigen Auswirkungen. Er schiebt sich auf. Diese Verzögerung, für welche der Arbeitsforscher Manfred Füllsack den Begriff der‚ delayed productivity’ vorschlägt, setzt auf den Gedanken einer Investition, die sich erst zu einem unbekannten, viel späteren Zeitpunkt amortisiert. Nach dem Prinzip der ‚delayed productivity’ basiert der Austausch im Labor auf künstlerischen, sozialen, kollaborativen Denkeinsätzen…

PS: … deren  Wissensakkumulation gerade nicht kalkuliert werden kann, um in deinem Jargon zu bleiben. Ein Labor wäre also ein Ort, an dem auf immer neue Weise Wissen produziert wird, wobei man die methodische Fragestellung ständig umformulieren muss, um Wissenszufall zu ermöglichen, aber wenn man etwas Wissenswertes gefunden haben könnte, wissen die Beteiligten selbst nichts davon.

PS: Oder um es anders zu sagen: Das Labor ist praktisch nicht anderes als ein um sich kreisender, sich kreißender Metalog. Heureka!

Musik