veröffentlicht in: S. Umathum, J. Deck (Hg.): Postdramaturgien. Neofelis-Verlag 2020
Die folgende Geschichte hat sich genau so zugetragen. Es war, ich erinnere mich noch ganz genau, der 13. Mai 1993, ein Donnerstag. Die Geschichte trug sich im Theater von … zu, nach der Aufführung des Stücks … in der Inszenierung von … . Ich hatte gerade meine Lehre zum Buchhändler abgebrochen und war auf der Suche nach einem Neuanfang für mein noch junges Leben. Ich brachte damals meine Tage mit der intensiven Lektüre der Shakespeare’schen Königsdramen zu und arbeitete mich gerade an Richard III ab, als ich beschloss, abends ins Theater zu gehen…
Als der Applaus zu seinem Ende gefunden hatte (es war einer jener Applause, wie er später sagen sollte, die wie ein starker Sommerregen aus dem Nichts einsetzen, als würde in den hellen, heiteren Himmel ein Blitz fahren, der sich dann im kübelnden Nass entleert) und das Saallicht wieder angegangen war, war es eher Zufall, dass er und ich uns gemeinsam dazu aufmachten, die Stufen des Zuschauerraums hinaufzugehen. Ich hatte ihm kurz vor der Vorstellung mein Programmheft geliehen, das er merkwürdig uninteressiert zu lesen geschienen hatte. Mir war aufgefallen, dass sein Interesse eher den abgedruckten Biografien der Beteiligten gegolten hatte als der Stücknotiz, die ich wiederum aufmerksam studiert hatte; schließlich hatte ich wissen wollen, was mich in der nächsten knappen Stunde erwarten würde. Als er mir das Heft mit einem dankenden Kopfnicken zurückgegeben hatte, wollte ich ihn noch gefragt haben, ob er denn bereits etwas von dieser Gruppe gesehen hätte, da war es auf der Bühne hell und im Saal still geworden.
Nun also verließen wir gemeinsam den Theaterraum. „Verzeihen Sie,“ sagte ich, „ich will nicht allzu neugierig erscheinen“, und fuhrwerkte, für mich selbst ganz überraschend, nervös in meinem Gesicht herum, „aber mich würde irgendwie interessieren, ob Ihnen das Stück gefallen hat. Während der ganze Saal begeistert schien“, und hier machte ich eine Bewegung in den Zuschauerraum hinein, „saßen Sie beim Applaus gänzlich regungslos da.“ Ich verschwieg an dieser Stelle, dass ich seine stoische Ruhe inmitten des Tosens beeindruckend fand, mithin der Grund, warum ich ihn angesprochen hatte, und setzte stattdessen hinterher: „Also, ich fand das Stück ja ganz gelungen.“ Er erwiderte mit einem Lächeln, wir hatten gerade das Theaterfoyer erreicht: „80 Prozent.“ Ich sah ihn zunächst verständnislos an, bis der Groschen fiel: „Ach so, das Stück hat Ihnen zu 80 Prozent gefallen?“ – „Bei 80 Prozent lag die Wahrscheinlichkeit, dass ich rausgehe“, entgegnete er ruhig. Wir steuerten auf die Garderobe zu, obwohl er seinen Mantel, wie ich nun sah, bereits anhatte, oder besser, er hatte ihn vorher gar nicht ausgezogen. Ich streckte dem Mann hinter dem Tresen meinen Abholzettel hin und fragte: „Dann waren die 20 Prozent, die Sie davon abhielten, ja ungewöhnlich einflussreich.“ Er wartete, bis ich meine Jacke entgegengenommen hatte, und als ich sie überzog, sagte er: „Und wieso sind Sie geblieben?“ Ich war etwas irritiert über seine Frage, hatte ich doch bereits gesagt, dass mir das Stück gefallen hatte. „Dass einem eine Aufführung gefällt, dass man mit ihr einverstanden ist, bedeutet nun ja nicht, dass man sie verstanden hat. Verstehen und Einverstehen sind doch zwei verschiedene Sachen, finden Sie nicht?“, fügte er hinzu und knöpfte seinen Mantel zu. Weil es im Foyer alles andere als kalt war, steckte in dieser Geste etwas Eitles, als wollte er lediglich seinen kleinen Bauchansatz kaschieren. Oder aber damit das Gespräch beenden, mir signalisieren, dass er jetzt gehen würde. Stattdessen sagte er: „Also, was war der Grund, warum Sie in der Aufführung geblieben sind?“
Ich war nun noch mehr verwirrt. Ich verstand nicht, warum einem eine Theaterinszenierung nicht einfach so gefallen kann, warum die Tatsache, dass sie einem ohne besonderen Grund gefällt, nicht ausreichend sein sollte, um sie zu Ende zu schauen. „Ich fühlte mich einfach gut unterhalten“, sagte ich, etwas verunsichert, ob er meine Antwort akzeptabel finden würde. Er schien unser Gespräch ernst zu nehmen, ernster, als ich das eingangs beabsichtigt hatte. „Was genau hat Sie unterhalten?“, hakte er nach, sich Mühe gebend, nicht zu oberlehrerhaft zu wirken, aber ich konnte nicht umhin, genau einen solchen Unterton herauszuhören. Ich spielte dennoch mit: „Die Leistung der Schauspieler, die Handlung, die Musik, auch die Kostüme, die Bühne erschienen mir stimmig ineinander zu greifen – mit alldem konnte ich viel anfangen“, und setzte am Schluss noch hinzu, „ja, ich fühlte mich gut unterhalten.“ Aber er wollte gar nicht über die Schauspieler oder die Handlung, die Musik oder Kostüme sprechen. „Was bedeutet das, wenn man sich gut unterhalten fühlt?“ Er ließ nicht locker. Was wollte er denn bloß von mir? „Man fühlt sich einfach gut unterhalten“, sagte ich schnippisch. „Man ist mit nichts anderem beschäftigt, als im Zuschauerraum zu sitzen und dem Geschehen, das sich vor einem ausbreitet, zu folgen. Man vergisst alles andere und ist konzentriert. Sie tun gerade so, als wäre das etwas Schlechtes!“ – „Im Gegenteil“, lachte mein Gegenüber und zeigte eine etwas verfärbte Zahnreihe, „das ist ja das Höchste, was man vom Besuch des Theaters verlangen kann. Dass sich das Publikum unterhält. Ich meine das ernst. Ich beneide Sie geradezu dafür, dass Sie sich an einem solchen Abend unterhalten fühlen. Unterhalten meint doch, dass Bühne und Zuschauer in Kontakt getreten sind, dieser Kontakt aufrechterhalten wird, dass etwas zum Tragen kommt, dieser Kontakt getragen wird, sich trägt, etwas Tragbares zustande gekommen ist, das weit über das Ertragen hinaus geht. Auf Tragbarem wurde so manche Ehe geschlossen, so manche Beziehung eingegangen, eine Freundschaft braucht etwas Tragbares, auf dem sie aufbauen kann, und wenn sie zu Ende geht, wurde ihr genau jener Grund entzogen, der sie getragen hat, sie wird untragbar für die beiden.“
Dieser Enthusiasmus, der aus ihm hervorbrach, überraschte mich dann doch. Er wirkte überhaupt nicht enttäuscht darüber, dass er den Abend nicht hatte genießen können. Er sah meine Überraschung. „Was ich eigentlich sagen wollte“, meinte er, mich mit sanften Handbewegungen zur Treppe und zum Gebäudeausgang leitend, „der Unterhaltungseffekt fußt auf einem Vertrag zwischen Bühne und Zuschauerraum, der ohne Unterschriften auskommt. Und damit meine ich nicht, dass das Publikum von vornherein unterhalten werden möchte und die Bühne nur diesen einen Zweck verfolgt, dem Zuschauer jenen Gefallen zu tun. Und selbst wenn das Theater das wollte, wie könnte das überhaupt gelingen?“
Wir waren am Ausgang angekommen. Ich versuchte erst gar nicht, eine Antwort zu geben, war die Frage doch eine rein rhetorische. „Das Wie ist das Entscheidende, auf das Wie kommt es hierbei an“, sagte er und betonte das Wie allzu sehr. Ich sagte daraufhin trocken, ihn imitierend: „Und wie ist eigentlich Ihr Name? Wollen wir übrigens noch auf ein Glas?“ – „Lorenz. Lorenz Landau, und ja, gerne!“ Ich hatte bereits die Klinke der Glastür in der Hand, die in die Theaterbar führte, als ich Lorenz meinen Namen nannte. Uns schlug der Bierdunst des Abends entgegen, jeder Tisch war besetzt mit Zuschauern, die auch in der Vorstellung gewesen waren, nur an der Bar standen zwei herrenlose Hocker – genau richtig für uns zwei gedankenverlorene Herren, dachte ich. Als wir Platz genommen hatten, ich bestellte ein großes Sprudelwasser, er einen Rotwein, prosteten wir uns zu, und ich sagte: „Wie lautet also die Antwort?“ – „Auf welche Frage?“ – „Na, auf die von Ihnen gestellte Frage nach dem Wie?“ – „Habe ich ihnen doch schon genannt.“ – „Haben Sie nicht.“ – „Doch, habe ich. ‚Wie heißen Sie‘, fragten Sie, und ich antwortete.“ – „Doch nicht dieses Wie“, unterbrach ich ihn ärgerlich, „das andere Wie, das Wie des Gelingens! Jetzt stellen Sie sich doch NICHT SO DUMM, MENSCH!“
Für den Bruchteil einer Sekunde verstummten die Gespräche an den anderen Tischen, Blicke trafen mich, dann widmeten sich die Gäste wieder einander. Ich murmelte: „Entschuldigen Sie meine Heftigkeit, aber ich dachte, wir führten miteinander ein Gespräch, bei dem der eine dem anderen zuhört und man sich füreinander interessiert.“ –„Sehen Sie, das ist das Wie, mit dem Sie unzufrieden sind. Dass wir ein Gespräch miteinander führen, ist ja unzweifelhaft“, und hier kratzte er sich an seiner langen Nase. „Sie aber äußern sich unzufrieden mit der Art und Weise, in der wir dieses Gespräch, oder vielmehr, wie ich dieses Gespräch führe. Dabei unterstellen Sie mir, dass ich unachtsam bin oder mich nicht zu 100 Prozent dem Gesprächsinhalt widme. Das Wie unseres Gesprächs, die Art und Weise unserer Unterhaltung ist hier doch von entscheidender Bedeutung.“ Irgendwie fühlte ich mich von Landau vorgeführt. „Das heißt, dass Sie sich gerade eben absichtlich dumm gestellt haben.“ – „War das nicht genau das, was Sie vorhin so laut in den Raum gerufen haben? Dass ich mich dumm stelle?“
Jetzt war ich verwirrt. „Äh, nun, ich meinte, glaube ich, oder vermeinte zu glauben, dass Sie sich dumm angestellt hätten, aber doch viel eher, weil Sie, wie ich glaubte, gedankenlos waren und sich daher dumm verhielten.“ – „Und wenn das meine Absicht gewesen war?“, entgegnete er ruhig. „Sie haben mir also so etwas wie eine Falle gestellt?“, fragte ich zurück und schaute ihm in die Augen. Er sah müde aus, aber etwas in ihm wollte nicht locker lassen. „Und wenn dem so wäre?“ Noch eine rhetorische Frage, auf die ich keine Lust hatte, eine Antwort zu versuchen. Er fragte weiter: „Ist denn nicht die Finte, die aufgezogene Falle, das Auslegen von Ködern das, was einem Gespräch die Würze verleiht?“ (Ich dachte bei mir, ‚Oder das, womit du dich interessant zu machen versuchst.‘) „Oder sagen wir doch besser, ist nicht das Vorspiegeln von etwas, das sich bei genauerer Betrachtung als etwas Anderes, wenn nicht sein Gegenteil herausstellt, nicht das, was man meint, wenn man von Verführung spricht?“ Ich legte meine Stirn in sehr theatralische Falten, in der Hoffnung, er würde dies als Zeichen meiner Missbilligung verstehen, und zwar ohne Mehrdeutigkeit. Ich sagte scharf: „Zwischen Verführung und Überrumpelung liegen doch aber Welten! Und Sie haben mich gerade überrumpelt.“ – „Dann würden Sie mir aber zustimmen, dass, sollte das Auslegen des Köders auf eine Weise erfolgen, durch die Sie sich nicht überrumpelt fühlen, Ihnen diese Art des Verführtwerdens doch nicht unangenehm wäre?“ Ich zögerte mit der Antwort: „Tatsächlich eher nicht“, sagte ich vorsichtig. „Und warum wäre das so?“, hakte Landau nach. – „Weil ich, weil ich nicht den Eindruck hätte, dass mich jemand von etwas überzeugen wollen würde. Und weil ich dann den Eindruck hätte, ich könnte mich selbst entscheiden, ob ich verführt werden wollte oder nicht.“ – „Das Wie des Köders, wie der Köder ausgelegt wird, scheint also von entscheidender Bedeutung zu sein.“
Mir behagte diese Anglermetapher überhaupt nicht. Sie hatte etwas Diabolisches, Hintertriebenes. Mir fiel in diesem Augenblick Richard III ein, den ich an diesem Nachmittag gelesen hatte, und das war mir unangenehm. „Es geht also nicht so sehr um den eigentlichen Köder“, fuhr er fort, „sondern wie er maskiert ist oder parfümiert ist oder sich anfühlt. Das mit dem Verführen ist doch eine merkwürdige Sache.“ Mit einem Fingerzeig bestellte Landau bei dem Barmann noch ein Glas Rotwein. „Sie scheinen zu verlangen, dass die Möglichkeit des Verführtwerdens im Vorfeld verhandelt werden muss wie ein Vertrag, unter den beide Partner dann ihre gleichberechtigte Unterschrift setzen, um die noch einzulösende Verführung damit erst zu ermöglichen. Andererseits ist damit aber jedes Geheimnis, jede Überraschung, jedes Erleben tot.“ Ich hatte es hier mit einem Zwangsromantiker zu tun, dachte ich, als er das Glas, das vor ihn hingestellt wurde, nahm und daraus trank. Ein Zwangsromantiker, der den Verlust des Unmittelbaren, des Überwältigtseins beklagte und wohl im Laufe des Abends im Rotwein ersaufen würde. „Schauen Sie sich doch hier einmal um“, sagte er und leckte sich über die Lippen. „An den Tischen sitzen lauter aufgeklärte Menschen, Theaterbesucher wie Sie und ich. Die sind alle mit ihren symmetrischen Beziehungen beschäftigt.“
Er sagte tatsächlich symmetrische Beziehungen. Was er damit meinte war, dass alle am gleichen Dilemma litten, dass sie einerseits im guten, höflichen Einvernehmen miteinander verkehrten, darauf achteten, das Gespräch in Gang zu halten, dem anderen nicht das Wort abzuschneiden, ihre Gedanken abwägten und gemeinsam das Konsensuelle selbst bei etwaigen Differenzen suchten, dann aber insgeheim die Langeweile, die Fadesse, das sich ereignende Nichts beklagten, das sich daraus notwendigerweise ergab, weil sie sich nicht auseinandersetzten, an der Oberfläche blieben. Woher er dieses Wissen über die Leute nahm, sagte er allerdings nicht. Nein, Landau war kein Zwangsromantiker. Er war Euphoriker! „Die Leute wollen sich immer verständigen. Sie wollen füreinander Verständnis aufbringen. Aber dazu muss man sich verstehen. Doch woher kommt denn immer dieser Drang, verstehen zu wollen?“ Oder war er Enigmatiker? „Und was heißt das denn, verstehen? Wer oder was kann denn verstanden werden, ohne dass ich in ihn eindringe, meinen Gedanken muss ich doch sozusagen in dem Kopf des anderen platzieren, damit dieser überhaupt etwas hat, das er zu verstehen versucht.“
Der Alkohol schien ihm bereits zu Kopf gestiegen zu sein. „Damit bin ich doch immer schon in dem anderen drin, ohne dass dieser davon weiß. Ist letztendlich nicht jede Begegnung eine Form dieser Überwältigung, dieses Übergriffs?“ Der Euphoriker redete sich in Rage. „Vor jedem Verstehen – braucht es da nicht jene Überwältigung“, und hier fasste er mich am Arm, „die dem anderen zwangsläufig nicht unbedingt angenehm sein kann, weil er“ – oder sie, dachte ich – „ja zuerst nicht weiß, was der andere zum Verstehen bringen möchte? Verstehen Sie mich denn? Bleibt da nicht immer ein Rest des Nicht-verstanden-Habens? Und dieser Rest, mein lieber Freund, dieser Rest ist der Grund, warum wir ins Theater gehen. Dieser Rest, der sich dem Verstehen versperrt, sich ihm quasi sogar entgegenstellt, den Zutritt verwehrt, vor den Kopf stößt, das ist Theater.“ Er nahm noch einen Schluck. „Nun rede ich nicht von Schockeffekten oder Monstrositäten, ich rede hier nicht von Oberflächenphänomenen. Ich rede auch nicht von komplett unverständlichem Zeug, das weißes Rauschen hervorbringt, Gedankengeflimmer. Ich rede von Strukturen, die gerade so viel offen legen, dass sie zugänglich erscheinen, im Moment des gedanklichen Zugriffs sich aber entziehen. Ein Köder, der zwar erkannt wird, der aber nicht verschluckt werden kann, sondern weggenommen wird, herausgezogen und an anderer Stelle irgendwo in der Nähe wieder auftaucht und sichtbar wird. Das ist die Verführungskunst von Theater. Das Auslegen von Spuren, die sich als lesbare Strukturen gerieren, aber nicht zu entschlüsseln sind.“
Ich hatte damals bereits genug Nietzsche gelesen, um eine ungefähre Ahnung davon zu haben, was er damit meinte. „‚Die Natur kennt keine Formen und Begriffe, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X‘, heißt es irgendwo bei Nietzsche, wenn ich mich richtig erinnere“, sagte ich, „diesem X können wir mit der Sprache, die uns zur Verfügung steht, nicht beikommen“, hatte aber gleich den Eindruck, dass dieses Sekundieren nicht zu ihm durchdrang. Die Lider hingen schlaff über seinen Augen.
Und dann sagte er, ganz leise: „Das Theater ist keine Aufführanstalt von gemeinschaftlich konsensuellem Wissen und Verstehen, sondern eine Verführanstalt des Nicht-Verstehens.“ Er war nun ganz in sich zusammengesunken, starrte in sein Glas und redete, mehr zu sich, über den Applaus des heutigen Abends, der wie ein starker Sommerregen aus dem Nichts eingesetzt hätte, als würde in den hellen, heiteren Himmel ein Blitz gefahren sein, der sich dann im kübelnden Nass entleert haben würde, und dass ihn dies verunsichert hätte, weil ein solches Klatschen eine Akklamation signalisiert haben würde für etwas, das doch gar nicht auf Verständnis hätte abzuzielen vermögen, dass für ihn ein solcher Applaus eigentlich das Scheitern der Aufführung angezeigt haben würde, weil sich darin das Nicht-Verstehbare als Verstanden-Haben und Einverstanden-Sein ausgedrückt haben würde und nicht als Irritation, die den Zuschauer hätte am Kragen packen und durchschütteln müssen, so dass dieser seine Hände eigentlich dafür hätte verwenden müssen, sich aus dem Zugriff, aus dem Übergriff des Theaters zu befreien, die Hände des Theaters abzuwehren, die sich um seinen Hals gelegt haben würden, statt die Hände zum Applaus zu bewegen.
Am Applaus würde Landau erkannt haben, ob eine Aufführung etwas anderes bewege als nur die Hände zueinander. Die Fallen, die während dieser Aufführung aufgezogen worden wären, wären auf eine Weise markiert gewesen, dass das Publikum diese hätte erkannt haben können, aber dennoch begeistert in sie getappt gewesen wäre, mit diesem unaushaltbaren Augenzwinkern der Uneigentlichkeit, das Einverständnis und Verstehen kurzgeschlossen haben würde, womit man wieder bei diesem unerträglichen, ertraglosen Konsens der Verabredung gelandet wäre, demzufolge man das, was auf der Bühne stattgefunden hätte, mit dem, was im Zuschauerraum vor sich gegangen wäre, in eins zu setzen haben würde, anstatt dem Publikum genau das entgegenzuhalten, wovon es gar nicht gewusst hätte, dass es so etwas geben würde, jenes X nämlich (er hatte mir vorhin also doch zugehört!), das variabel wäre und sich immer dem Verstehen entziehen würde. Und deswegen hätte er eigentlich die Aufführung verlassen wollen, weil er zu 80 % sicher gewesen wäre, dass der heutige Abend seine Vermutung bestätigt haben würde, und dem wollte er sich eigentlich nicht ausgesetzt haben.
Ich musste nun leider mal ganz dringend, wollte Landau aber in seinem Redefluss nicht unterbrechen. Da er die Sätze immerfort in sein Glas sprach, erhob ich mich ganz vorsichtig und steuerte, von ihm unbemerkt, wie ich vermutete, in Richtung Herrentoilette. Dort schloss ich mich in der letzten freien Kabine ein und entleerte meine Blase. Während ich so dastand, fiel mein Blick auf einen Spruch, der mit schwarzem Filzstift direkt gegenüber auf die Fliese gekritzelt war: „Im Leben, im Leben geht mancher Schuss daneben.“Ich musste laut auflachen. Mein Vater machte diesen Spruch immer, wenn etwas nicht so klappen wollte, wie er sich das vorgestellt hatte. Den Grund, warum er ihn immer verwendete, hatte er mir erst kurz vor seiner unglücklichen Operation erzählt, von der er sich nicht mehr richtig erholen sollte. Mein Vater war, bevor er den Beruf des Lehrers ergriff, Messerwerfer bei einem Wanderzirkus und finanzierte sich damit sein Studium.
Das war alles ein paar Jahre nach dem Krieg, ich spreche von den deutschen 50ern. Im Zirkus hatte er seine erste Frau kennengelernt. Die Frau, deren richtigen Namen ich bis heute nie erfahren habe, hatte pechschwarze Haare und kolkrabenfarbene Augen und wurde aufgrund ihrer Erscheinung zur idealen Partnerin für die Zirkusnummer, wie mein Vater gesagt hatte, in der er mit ihr auftrat. Auf dem Höhepunkt des Abends stellte sie sich vor eine kreischbunte Holzwand und schaute zu meinem Vater, wie er die langen, scharfen Wurfmesser auf sie richtete und zielte, um diese dann knapp neben Kopf, Hals, Brust einschlagen zu lassen. Er war ‚der große Zampano‘, und sie trat als Madame Corbeau auf, so konnte man sich damals noch nennen. Als sie an einem kalten Winterabend 1958 in Forbach, einem kleinen Ort nahe der französisch-deutschen Grenze, spielten, war mein Vater sehr stark erkältet. Der Zirkusdirektor wollte den Auftritt des großen Zampano schon absagen, aber mein Vater bestand darauf. Dienst ist Dienst, dies war sein anderer Lieblingsspruch. Als sich Madame Corbeau in Erwartung des ersten Messers in Position stellte, überkam meinen Vater ein unglaublich heftiger Niesreiz, den er vor dem ersten Wurf zu unterdrücken verstand, was jedoch dazu führte, dass seine Augen beim zweiten Wurf tränten, bis sich der Niesreflex dann schließlich Bahn brach und der dritte Wurf etwas verrutschte. Kein Wunder, dass mein Vater nicht gerne über Forbach sprach, hatte er Madame Corbeau doch sehr geliebt. Im Leben, im Leben. Ein Jahr später kam sie bei einem Autounfall ums Leben, aber das ist eine andere Geschichte.
Ohne diese andere Geschichte wäre ich in diesem Augenblick jedoch nicht in dieser Kabine gestanden. Woran mich auch ein Hämmern an die Toilettentür erinnerte. „Moment noch“, rief ich. Was hatte das alles denn zu bedeuten? War ich etwa Madame Corbeau und Landau mein Vater, und beide standen wir im spannungsgeladenen Scheinwerferlicht unseres Gesprächszirkus? Sein Beharren war das Messer, das er auf mich gerichtet hatte? Und der Rotwein, von dem er sich wohl gerade ein drittes oder gar viertes Glas bestellte, seine Erkältung, die einen klaren Blick auf die Sache verstellte? Das Niesen das Ausrutschen der Aufführungen? Ich musste zugeben, ich war von dieser Begegnung beeindruckter, als ich bislang zuzugeben gewillt war. Oder war, weil der Applaus nach dem missglückten Wurf meines Vaters im Zirkus ausblieb – war das die Botschaft: Die Hände der Zuschauer in Schockstarre auf halbem Weg zum Stillstand gekommen aufgrund des Einbruchs des Realen in diese Nummer, die buchstäblich auf Messers Schneide stand? Hatte ich Landau so nahe kommen lassen, dass er gar schon inmeinen Kopf eingedrungen war? Ich riss die Tür auf, um nachzusehen, ob er es war, der so wild geklopft hatte. Doch da war niemand. Am Waschbecken wusch ich mir nachlässig die Hände und ging mit nassen Fingern in den Gastraum zurück. Aber Lorenz Landau war weg.
Ich sollte ihm nie wieder begegnen. Natürlich hielt ich bei meinen unzähligen Theaterbesuchen in den darauffolgenden Monaten Ausschau nach ihm, aber ich sah ihn nie unter den Zuschauern – und vergaß ihn schließlich. Bis ich etliche Jahre nach unserer Begegnung in einem Sammelband auf einen Essay von ihm gestoßen bin, dessen Überschrift lautete: Zur Krise und Kritik der zeitgenössischen Dramaturgie. Ich blätterte ihn flüchtig durch, wollte schon zum nächsten Artikel weitergehen, da blieb mein Blick an dem letzten Satz des Textes kleben: „Dramaturgie hängt an der Zeit wie das Pendel an der Uhr.“