Essay über die epistemische und ästhetische Differenzen in der Wissensproduktion im zeitgenössischen Tanz
Die Produktion von Wissen ist das Hauptziel von Wissenschaft. Wissen wird dabei zunächst gesetzt als das, was vermittels eines diskursiven Systems subjektübergreifend kommuniziert werden kann. Tanz- oder Theaterwissenschaft versucht über die Aufführungsanalyse oder ähnliche Deutungsverfahren von künstlerischen Prozessen mehr über die darstellenden Künste zu erfahren. Dabei ist dieses Mehr[1] oftmals ein Zuviel, welches sich nicht in den theoretischen Diskurs übersetzen lässt. Sowohl hermeneutische als auch phänomenologische Denkansätze (wie auch deren Hybridisierungen) schreiben der Aufführung dabei ein ästhetisches Plus zu, welches die diskursive Wissensproduktion nicht einzuholen imstande ist. Dieses epistemische Gefälle befeuert gleichermaßen die kunsttheoretische Diskursbildung, das jedoch das in der Aufführung vermutete Wissen nur unterbieten kann. Wenn Wissen hier als eine irreduzible Beziehung des Sichtbaren[2] mit dem Sagbaren[3] und vice versa verstanden werden kann, wie Deleuze dies in „Foucault“ angedeutet hat, dem keine Wahrnehmung vorgängig ist, dann müssen die Bedingungen befragt werden, unter welchen dieses Wissen geschaffen werden kann: dann muss das Verhältnis des Sagbaren und des Sichtbaren in das Licht der Epistemologie gestellt werden.
Zur ästhetischen Differenz
Die ästhetische Differenz, die sich in gängigen Kunsttheorien exakt durch das Unübersetzbarkeitstheorem Adornos bestimmen lässt, wonach jedes Kunstwerk zwar spricht, sein Sprechen jedoch wortsprachlich uneinholbar verrätselt, da es beständig verschweigt, was es zu sagen hat, wäre demnach als eine andere zu bestimmen als jene, die als epistemische Differenz das Sichtbare und das (darüber) Sagbare miteinander vermittelt. Zeigt sich das Ästhetische gerade dadurch, dass künstlerische Prozesse nur aufgrund einer kategorialen Trennung, und damit grundsätzlichen Differenz vom propositional Sagbaren für sich stehen können, so versucht das Epistemische, dieses irreduzible Verhältnis zwischen dem nicht-diskursiv Sichtbaren und dem diskursiv Sagbaren als Wissen zu relationieren. Ästhetische Differenz ist demnach eine kategoriale, die epistemische eine relationale Differenz. Relational insofern, als sie versucht, die Uneinholbarkeit des Ästhetischen im Diskurs in ein Wissensverhältnis zu setzen.
Das Ästhetische ist dabei ein in seinem Medium reflektiertes Verschweigen des zu Sagenden, das durch Kunstanalyse erst als solches bestimmt werden kann: entweder, indem es als Übersetzung zur Wissensschaffung das artefaktisch Verschwiegene diskursiv sagen will (Hermeneutik) oder indem es das artefaktisch Verschwiegene als eigenen Modus des artefaktischen Sprechens sagen und damit in seiner Rätselhaftigkeit bestehen lassen will (Phänomenologie). Künstlerische Prozesse zeigen sich dahingehend als „Riss im Sagbaren“, als diese Lücken in diskursive Sprache reißen und deren propositionales Vermögen durch das letzthin Undiskursivierbare prekarisiert. Dieser Riss, den das Sichtbare durch das Sagbare zieht, lässt sich in der tanzästhetischen Debatte als affirmativ (das Ach der Tanzpuppe Olympia, das notwendige Staunen im Aha-Erlebnis bei John Martin[4]) oder aber subversiv (die Widerständigkeit der Praxis gegenüber der Theorie) für Theorie beschreiben, nicht aber nivellieren. Dieser Riss scheint den theoretischen Diskurs zu unterbrechen und ihn ständig außer Tritt zu bringen.
Zur epistemischen Differenz
Die epistemische Perspektive auf diesen Riss begreift das artefaktisch Sichtbare und das (kontra-)faktisch Sagbare nun als Dispositiv, welches zuallererst die Bedingungen für die Produktion von Wissen bereitstellt. Jedoch sind diese Bedingungen nicht als außerhalb des Ästhetischen zu begreifen, sondern stellen dieses umgekehrt erst her. Der Diskurs über das Kunstwerk, der Wissen schaffen soll aus dem Verhältnis von (nicht-diskursiv) Sichtbarem und (diskursiv) Sagbarem, produziert zuallererst den (theoretisch zu fassenden) Gegenstand, das Artefakt über welches er vermeintlich spricht. Der ästhetische Riss zwischen dem Sicht- und dem Sagbaren ergibt sich dadurch als ein Effekt der Wissensproduktion, er ist das Ergebnis eines gescheiterten Übersetzungsversuches. Er zeigt sich nämlich erst, wenn das zu deutende Artefakt unmöglich in Sprache gefasst werden konnte. Das diskursive Scheitern ist damit nicht nur dadurch begründet, dass sich das Kunstwerk vornehmlich als medial differenziell erweisen würde (und damit eben als Kunstwerk und nicht als Sprache redete), das diskursive Scheitern ist vielmehr notwendig, um künstlerischen Prozessen ihre Kunsthaftigkeit diskursiv erst attribuieren zu können. Mit der gleichen Geste, mit welcher Kunsttheorie das Artefakt als Nicht-Diskursives von sich ausschließt, nimmt sie das Kunstwerk in ihren interpretativen Hoheitsbereich wieder auf.[5]
Die Obszönität (in der Bedeutung von Unsichtbarem) dabei ist, dass die kunsttheoretische Debatte dieses ästhetische Zuviel nur als ein diskursives Zuwenig denken kann. Das, was nicht ausgesagt werden kann über Kunst (der Aufführung), wird umgekehrt als Mangel an Sagbarem der Kunst gutgeschrieben. Es ist das paradoxe Moment einer Gutschrift eben eines Minus, welches das Zuviel der Aufführung bestimmt. Deren Mehrwert wird so immer nur durch ein erkenntnistheoretisches Zuwenig produziert. Der Überschuss von der Aufführung dem Diskurs gegenüber ist damit nicht das, was nach Abzug einer unmöglichen diskursiven Übersetzung übrig bleibt, sondern was der Aufführungkunst erst durch den theoretischen Diskurs überwiesen wird. Der Diskurs bildet den epistemischen Horizont, vor welchem Kunst als Mehr in Erscheinung treten kann; Kunst ist kein Rätsel, sondern Effekt einer diskursiven Verrätselung.
Dieses Mehr ist die reine Differenz einer Negativität, die gleichwohl nicht das Ergebnis einer Substraktion ist. Der epistemische Mangel, welchen der Diskurs erst herstellt und an welchem er sich dann als Minus abarbeitet, ist eben nicht einem Überschuss der Kunst geschuldet, sondern Ergebnis einer diskursiven ‚Verkunstung’, welche das Minus in ein Plus verkehrt und dieses der Aufführung zufügt, um es dabei gleichwohl als Minus im eigenen Diskurs zu markieren. Dieses Minus bestimmt als ästhetische Unterbietung jeglichen kunsttheoretischen Diskurs, wobei es defizitär das Surplus bestimmt, das den sogenannten Rest formt.[6]
Daraus lässt sich nun folgern, dass das Sichtbare erst durch den propositional scheiternden Diskurs seinen artefaktischen Status als das Nicht-Diskursive des Kunstwerks erlangen kann. Die ästhetische Differenz, welche das Sichtbare vermeintlich vom (darüber) Sagbaren kategorial und irreduzibel trennt, ist damit der Effekt einer Ästhetisierung, welche das zunächst aisthetisch Wahrgenommene erst zum Sichtbaren epistemologisiert, zum potenziell Wissenden auflädt. Diese Ästhetisierung des Sichtbaren, als Auswirkung des Epistemologischen, setzt den „Riss in das Sagbare“, ohne jenen paradoxerweise nichts Sagbares über das Sichtbare geäußert werden könnte, wobei dadurch das Sichtbare im Beschreibungsvorgang – im Sinne der diskursiven Praxis – erst ästhetisiert wird. Das Wissen, das über den künstlerischen Prozess, die Aufführung, das Kunstwerk erworben werden soll, kann demnach nur geschaffen werden angesichts der Sichtbarmachung des Ästhetischen als Ästhetisches, während diese Visibilisierung nur mit Hilfe eines ästhetisch unterbietenden Diskurses gelingen kann, der die ästhetische Differenz zwischen nicht-diskursiven künstlerischen und theoretischen Praktiken als prinzipiell uneinholbar erst herstellt.
Damit liefert die epistemische Differenz noch ein Weiteres. Sie ästhetisiert als wissensproduzierender Diskurs nicht nur künstlerische Prozesse als Ästhetisches und markiert dessen epistemischen Status als das ästhetisch überschießend Andere des Theoriediskurses; gleichzeitig bedeutet dieses ästhetische Zuviel ein epistemisches Zuwenig, das nur durch den diskursiven Einsatz von Theorie ausgeglichen werden kann. Wenn Wissen über Aufführungen oder künstlerische Prozesse als Relation des Sichtbaren und des Sagbaren erworben werden kann, dann wäre nicht nur zu befragen, in welchem (ästhetischen) Verhältnis Kunst und Diskurs stehen, sondern auch, in welchem epistemischen Hervorbringungsverhältnis sie sich zueinander verhalten. Denn augenscheinlich lässt sich das Sichtbare vom Sagbaren erkenntnistheoretisch nicht trennen, obzwar diese Trennung sich als (ästhetisch motivierter) Riss durch das Sagbare zu ziehen scheint. Vielmehr stellen sich die Frage, welche Sagbarkeitsbedingungen das Sichtbare als Sichtbares sichtbar machen; es ist dies die Problematisierung nach den erkenntnistheoretischen Trennungsbedingungen, welche die Differenz zwischen Aufführung und Diskurs befeuert. Dieses Differenzial[7] ist notwendigerweise als ein zu untersuchendes Drittes zu verstehen, das sich zwischen ein vermeintlich binäres ästhetisches System stellt, welches bislang nur das Diskursive vom Nicht-Diskursiven zu scheiden in der Lage war. Das Differenzial ist vielmehr der erkenntnistheoretische Motor dieser ästhetischen Trennung, von welcher aus sich die Problematik von Sichtbarkeit und Sagbarkeit in bezug auf die Produktion von Wissen anders stellen lässt. Es entscheidet in seinen Unterscheidungsoperationen darüber, was propositional über das Sichtbare (nicht) gesagt werden kann und stellt das Sichtbare als solches durch diese Operation erst her, indem es das, was sich der Übersetzung zu sperren scheint, dem Sichtbaren als ästhetisch Spezifisches zuschreibt. Dieser negativitätsästhetische Rest des Sichtbaren ist demnach kein ästhetisch Gegebenes, sondern der Effekt eines gescheiterten Übersetzungsversuches, dessen Sagbarkeitsbedingungen[8] durch das Differenzial verfügt werden.
Das Differenzial ist jedoch nicht der Relationierung des Sicht- und Sagbaren vorgängig; es wird erkenntnistheoretisch nicht von außerhalb an dieses Verhältnis herangetragen, sondern ist selbst Bedingung wie auch Effekt der erkenntnistheoretischen Bezugsetzung von Sicht- und Sagbarkeit, welche das epistemische Minus zu nivellieren vesucht. Das Differenzial (unter-)scheidet das Nicht-Diskursive vom Diskursiven, stellt sich aber durch die Operation der Unterscheidung selbst her. Im Moment der Unterscheidung (Differenzierung) legt das Differenzial nicht nur das Verhältnis zwischen Sicht- und Sagbarkeit fest, sondern auch sich selbst als (Unter-)Scheidendes.
Das Differenzial funktioniert dabei wie eine (Scheide-)Linie. Diese trennt ein Innen von einem Außenbereich, ohne zum einen, noch zum anderen zu gehören; gehörte sie zu je einem, könnte sie als Drittes nicht die beiden Bereiche voneinander differenzieren. Aus demselbem Grund ist sie jedoch auch nicht gleichzeitig Teil von beiden Bereichen, obgleich sie beide Bereiche miteinander verbindet und damit eigentlich zu beiden gehören müsste. Das Differenzial bildet vielmehr das erkenntnistheoretische Kalkül[9], wonach das Sichtbare und das Sagbare erst als solche sich epistemisch hervorbringen und dadurch scheiden lassen.
Das prekäre Verhältnis von Sichtbarem und Sagbarem[10] lässt sich demnach als double bind fassen, wonach die kategoriale ästhetische Differenz durch die epistemische Unterscheidungsoperation des Differenzials erst in ein erkenntnistheoretisches Verhältnis gesetzt werden kann. Diese Relationierung ist notwendig, um Wissen über künstlerische Prozesse wie die Aufführung schaffen zu können.
Unter dem Sichtbaren wird damit nicht das einfach aisthetisch Wahrnehmbare, das Sinnliche verstanden; es ist vielmehr das bereits durch das erkenntnistheoretische Kalkül des Differenzials als Nicht-Diskursives ‚sichtbar’ Gemachte. Es ist damit von Sprache zwar nicht eingeholt, aber von ihr ins Licht gesetzt und vom Sagbaren beleuchtet. Wissen wird dabei bestimmt von den Sagbarkeitsbedingungen des Differenzials, unter welchen das Sichtbare diskursiviert und vermittels eines diskursiven Systems subjektübergreifend kommuniziert werden kann – als das zum Teil Unsagbare. Dabei ist Wissen nicht das, was verbindlich über das Sichtbare gesagt werden kann oder könnte. Es ist vielmehr der Redezusammenhang, der aus dem das Sicht- und Sagbare relationierenden Differenzial entsteht, von diesem bestimmt wird und die eigene epistemische Bedingung reflektiert. Es ist die Bewegung, die zwischen dem Sicht- und Sagbaren nötig wird, eine Choreografie des Wissens.
[1] Das viel zitierte Mehr ist der nicht diskursivierbare Rest, der dann übrig bleibt, wenn sich Kunst nicht vollständig in den Diskurs übersetzen lässt, wie es u.a. Wolfgang Iser auf eine griffige Formel bringt. Es wird an dieser Stelle auf eine vollständige kunsttheoretische Erörterung zugunsten der Darstellung eines anderen Konzepts von Sichtbarkeit. In der Arbeit jedoch werden ästhetische Wortmeldungen behandelt, die das prekäre epistemische Verhältnis von Nicht-Diskursivem und Diskursivem erörtern.
[2] Damit wird Sichtbarkeit nicht als phänomenologische Kategorie etwa im Sinne Merleau-Pontys aufgefasst, wonach Sichtbarkeit den leiblichen Modus des In-Der-Welt-Seins meint, welches chiastisch von Sehen und gesehen werden bestimmt wird: „Ein menschlicher Leib ist vorhanden, wenn es zwischen Sehendem und Sichtbarem […] zu einer Art Überkreuzung kommt […].“ (Auge und Geist, 281)
[3] Gleichermaßen wird die Figur des Sagbaren hier nicht direkt in Anlehnung an die Verwendung in der von Manfred Frank vorgelegten Textsammlung aufgefasst, wonach das Sagbare in eine Dialektik mit dem Unsagbaren tritt, um damit für eine Rückbesinnung einer von Schleiermacher vertretenen Hermeneutik und Texttheorie zu plädieren. Während bei Frank das Sagbare für die „Ordnung der Zeichen“ steht, während das Unsagbare für die“Anarchie des Individuums, das sich ihrer bedient“ steht. (Frank: S.10) Das Unsagbare wäre damit das, was bei individueller Sprach- oder Lektürepragmatik von den Regeln und Konventionen der sagbaren Zeichenordnung abweicht.
[4] Martins Konzept der Metakinesis beispielsweise setzt konstitutiv für das Erfahren eines Tanzkunstwerks ein erkennendes Staunen voraus. Dieses ‚Ah’-Erlebnis lässt den Zu-Schauer die Zusammenhänge, die sich ihm im Kunstwerk darbieten, auf einen Schlag schauen.
[5] Michel de Certeau spricht an anderer Stelle von einer „Ethnologisierung der Künste“, die im 18. Jahrhundert ihren Anfang nimmt. Kunst als nicht-diskursive Praktik gilt durch diese Operation als „ein Wissen, das außerhalb des aufgeklärten Diskurses operiert und diesem fehlt.“ (139) Dieses Handlungsvermögen „ist schon gelehrig, aber noch ungebildet“. (143)
[6] Michel de Certeau beschreibt diese „Kunst der Theorie“ am Beispiel der Theorien der Praktiken, wie sie von Foucault oder Bourdieu bei ihren historiografischen oder soziologischen Archäologien und Analysen vorgenommen werden als theoretischen Trick von „Zerlegen und Umkehren“: „Durch diesen Trick wird die Theorie zum Bestandteil der Prozeduren, die sie behandelt.“ (134)
[7] Der Begriff des Differenzials lehnt sich an dem Spencer Brown’schen Kalkül an, welches er als erste Unterscheidungsoperation behauptet, um Erkenntnis überhaupt erst möglich zu machen.
[8] Und damit auch, welche „Images of knowledge“ (Yehuda Elkana) durch diese Bedingungen geschaffen werden.
[9] George Spencer Brown verwendet den Begriff des Kalküls in seinem Buch Laws of Form, der mit der ersten erkenntnistheoretischen Operation einhergeht: „Draw a distinction“. Um überhaupt Aussagen über Dinge, Erscheinungen, Gedanken, Ereignisse treffen zu können, muss eine differenzgeleitete Unterscheidung das Eine vom Anderen trennen.
[10] Es ist auch ideologisch prekarisiert durch die Skepsis zeitgenössischer Tanzschaffenden, welche dem allzu Sichtbaren als Oberflächenphänomen misstrauen.