Eine Kritik über Wim Wenders’ “Pina – Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren”
Vor 20 Jahren sei ihm bereits die Idee gekommen, einen Film zu Pina Bausch zu machen, sagt Wim Wenders in einem Interview auf ARTE. Ihm sei aber nicht eingefallen, was er damals filmisch hätte besser machen können als die Dokumentationen oder Mitschnitte, die es bereits zu Bausch oder ihren Stücken gab. Nun, es fällt dem Betrachter des kürzlich vollendeten Films „Pina“ auch jetzt kein Grund ein, warum Wenders über seinen Hommageanspruch hinaus diesen Film über Pina Bausch gedreht hat.
Er wollte, wie Wenders in dem gleichen ARTE-Interview sagte, Bauschs besonderem Blick nachspüren. Dort, wo sie nicht mehr sitzen kann, soll gewissermaßen das Kamera-Auge nachvollziehen, was es heißt, mit Bausch zu sehen. Folgerichtig zieht uns Wenders mit der revolutionären Real 3D Technik zunächst mitten hinein ins tänzerische Geschehen von „Sacre du Printemps“. Man ist am Anfang mitgerissen von der haptischen Qualität des Dreidimensionalen, die die Tänzer fast mit Händen greifen lässt: die Kamera sieht mit den Augen des Tänzers Andrey Berezin, wie ihm die jeweiligen Kandidatinnen während der Opferwahl das berühmte rote Kleid darbieten. Die Erwählte, Ruth Adamante, scheint durch die Kamera hindurch direkt den Kinozuschauer anzuschauen, als sie das Kleid schließlich umarmt. Es ist, als stünde man mit ihr auf der Bühne. Kurz bevor sie zu dem mit den berühmten elf Paukenschlägen eingeleiteten ekstatischen Tanz ansetzt, der furiose Anfang vom dramatischen Ende des Frühlingsopfers, macht Wenders allerdings einen Schnitt. Zu zufällig ausgewählten Bildern lässt er stattdessen Bausch aus dem Off sagen, dass man mit Worten nicht auszudrücken vermag, was der Körper zu sagen habe. Wie Wenders mit seinem Schnitt unfreiwillig bewiesen hat, ist die stumme Dramatik der ekstatischen Körper nun jedenfalls dahin.
Und mit ihr der furiose Filmanfang, wovon sich der Film bis zum Ende nicht erholt. Denn nicht nur durch solche Schnitte weicht die Faszination der Dreidimensionalität schnell dem Eindruck des filmdramaturgisch Eindimensionalen. Wenders versucht für das Nachspüren des Blicks einfache Dispositive zu finden, die den Blick thematisieren und leiten sollen: man schaut einem Tänzer über die Schulter, wie er, einen Filmprojektor bedienend, altes Archivmaterial mit Bausch-Aufnahmen auf eine Leinwand wirft; man darf den in die Jahre gekommenen Dominique Mercy und Malou Airaudo dabei zusehen, wie sie, über ein Bühnenbildmodell von „Café Müller“ gebeugt, sich über ihre Erinnerungen zur eigentlichen Entstehung streiten, während, ein schöner Filmtrick, Ausschnitte aus dem Stück en miniature in das Modell eingespielt werden; die Kamera folgt einem „Kontakthof“-Darsteller, wie er Polaroids und damit filmische Stills von Tänzern schießt, die später in geschmäcklerischen Inserts in einem der letzten Stücke Bauschs, „Vollmond“, zu sehen sind; und immer wieder blickt die Kamera aus dem Zuschauerraum auf die Bühne des Geschehens und will uns aufzeigen, dass wir mit ihr im Auditorium sitzen. Was sonst als Technik der emotionalen Distanzierung eingesetzt wird, soll hier als Blickrahmung immer wieder auf Bauschs genauen Blick für Details anspielen. Nur leider verdichten sich diese visuell-dramaturgischen Rahmungen nicht zu einem Portrait des Geschehens, der Erinnerungen, sie bringen die Portraitierten in keiner Weise dem Betrachter näher. Im Gegenteil, das Framing wirkt in seinem hilflosen Versuch, eine visuelle Verdichtung zu finden, so belanglos, als würde man einen leeren Rahmen an eine weiße Wand hängen. Man sieht nicht mehr und nichts mehr. Und da, wo Wenders tatsächlich ein Portrait der Tänzer versucht, ärgert man sich über die Belanglosigkeit des Gezeigten. Er setzt die Protagonisten von Bauschs Werk auf einen Stuhl vor einen marmoriert blauen Hintergrund und lässt sie stumm in die Kamera blicken, während aus dem Off ihre Stimmen zu hören sind. Ihre Erinnerungen in Ehren, aber über bekannte Klischees und Anekdötchen hinaus fördern sie nichts Neues zutage. Ihr Blick zurück leidet unter dem gleichen Problem wie Wenders Film, der einfach nichts zu sagen hat, was nicht schon hundertmal an anderer Stelle pointierter gesagt und gezeigt wurde.
Im gefühlten zweiten Teil des Films lässt Wenders stattdessen immer mehr ‚Tanzbilder’ sprechen. Minutenlang sind immer wieder die Tänzer aus „Vollmond“ zu sehen, wie sie regennass durch Pfützen schliddern, von dem großen Pappfelsen hüpfen, in dessen Grottenöffnung kriechen, ab und an eine kleine solistische Tanzeinlage abliefern. Hier wie auch bei den in Ausschnitten gezeigten Stücken „Kontakthof“, „Café Müller“ oder „Sacre du Printemps“ ist kaum etwas zu sehen von der sozialen Relevanz, der Geschlechterbrisanz, der existenziellen Not, die diese nach wie vor aktuellen Bühnenstücke ausmachen. Die in den Arbeiten aufblitzenden gesellschaftspolitischen Fragen werden kaum vermittelt. Erstickt von einer eigens komponierten Filmmusik, die sich immer wieder zäh wie Zuckerguss über die Tanzszenen schleimt, tragen die Choreografien lediglich die Signatur von Bausch; was sie aber einmal zu sagen hatten, versteht nur der, der das Glück hatte, die Arbeiten live oder in einem vollständigen Stückmitschnitt zu sehen.
Wenders macht sich auch nicht die Mühe, im Filmschnitt auch nur annähernd die Ausschnitte der Zeitlichkeit der Bühne anzupassen, der sie entrissen wurde. Denn Bauschs Arbeiten verunsichern den Zuschauerblick u.a. in der überdehnten, ins Unerträgliche reichenden Zeitlichkeit von Szenen, in der Stillstellung von Zeit durch Wiederholung, durch wiederkehrende Bewegungsmuster, durch Ritornellen. Nicht umsonst hat Heiner Müller die nur an ihrer Oberfläche an Revuen gemahnenden Szenen als Totentänze bezeichnet, weil die Re-Vue den Zuschauer seine eigene Brutalität sehen lässt, die er, déjà vu, aus dem Miteinander des Alltags kennt. Diesen Blick auf sich selbst zu wagen, das ist es u.a., was das Werk Bauschs besonders in seinen Anfängen so umstritten gemacht hat, in der Lage, das Publikum gegen sich aufzubringen oder es für sich einzunehmen. Und das war anscheinend Bauschs Qualität des ‚Kuckens’, wie sie ihren Blick bezeichnet hat, dass sie in der Lage war, die emotionale Tiefe des ihr tänzerisch oder szenisch Angebotenen zu schauen.
Wenders Blick dagegen gibt dem Gezeigten nicht die Zeit, die es braucht, um Wirkung zu zeitigen. Einzig in den Ausschnitten aus „Kontakthof“, die Wenders aus den drei verschiedenen Versionen für Ensemble, für Jugendliche und für Senioren montiert, geht der Filmemacher bewusst mit der dem Bühnenstück eingeschriebenen temporalen Dimension um. Abseits davon scheint sich Wenders aber hauptsächlich für die Arabeske, die fahle Schönheit sich bewegender Körper zu interessieren.
Wenig mehr als liebliche Ornamente sind denn auch die Tänzchen, welche die Ensemblemitglieder vor der Kulisse (der Umgebung von) Wuppertal wagen. Warum auf der Verkehrsinsel oder neben dem Kohleförderband der Zeche Zollverein, in der Wuppertaler Schwebebahn oder im städtischen Hallenbad, im Stadtpark oder auf der Abraumhalde des Kohletagebau getanzt wird, erschließt sich dem Betrachter der Bilder denn auch überhaupt nicht; zu spannungslos sind Tanz und Stadtraum zusammengesponnen. Es sei denn, der Betrachter erinnert sich an ähnliche Szenen aus „Die Klage der Kaiserin“ aus dem Jahr 1989, den einzigen Kinofilm, den Pina Bausch als Regisseurin gedreht hat. Darin ließ sie ihr Ensemble in einer Ansammlung absurder Szenen durch die als grau empfundene Alltagswelt besonders der Stadt Wuppertal tanzen. Was man damals als Totentanz (sic) auf die Bonner Republik, die bald daraufhin mit dem Mauerfall tatsächlich zu Grabe getragen wird, hätte interpretieren können, scheint jetzt auf sommerlichen Hochglanz einer Touristenbroschüre poliert: Der Film Pina, lediglich eine Werbeveranstaltung für den Tanz? Hat Wenders nicht mitbekommen, dass sich die Welt in den letzten 25 Jahren mit all ihren medialen Neuerungen und Nutzungen radikal verändert hat? Dass der tanzende Körper, wie er hier dargestellt wird, in der Alltagswelt nicht mehr als Bildstörung wahrgenommen wird, sondern lediglich als Affirmation einer bereits bekannten, medial vorbestimmten Oberfläche? Er ist nichts sagend geworden. Dort, wo „Die Klage der Kaiserin“ versucht hat, angestammte Sehgewohnheiten zu unterbrechen und für neue Aufmerksamkeit zu sorgen, haben diese Stadtszenen nichts mehr zu beklagen, nichts mehr aufzuzeigen. Sie sind perfekt in das Stadtbild eingepasst und geben sich darin mit ihrer geglätteten Ornamentalität als urbanes Dekor zufrieden.
Man wird zusehends müde beim Betrachten von „Pina“, will die Augen schließen, weil man bei Wenders das Nachspürens irgendeines Blicks, geschweige denn Bauschs Kucken, nicht zu erkennen vermag. Man sieht schlicht nicht, was Wenders uns zu sehen geben will. Wie man auch nicht sieht, was Wenders eigentlich an Pina Bausch interessiert, über die ehrenwerte Hommage hinaus. „Pina hat gesehen, wo wir anderen im Dunkeln tappen,“ sagte Wim Wenders in seiner anlässlich der Trauerfeier für Pina Bausch gehaltenen Rede am 4. September 2009. Dieser Satz besitzt leider besondere Gültigkeit für ihn.
Veröffentlicht in corpusweb.net