Ein Essay aus der Innenperspektive des Projekts Belagerung Bartleby – 100 Stunden Installation, Labor, Schlafen, Schreiben, Performance, Lectures, Interventionen – vom 21.4.2004 bis 25.4.2004 im HAU 1 Berlin

(Es ist schon mit einer Klammer begonnen, einer einklammernden Klammer zu Beginn, wo bereits ausgeklammert ist, was hier nicht aufgeschrieben wird. Die Klammer kommentiert, erklärt den Satz noch einmal, gibt ein Beispiel für ein Argument, eine Figur zum Argumentum. Noch einmal: die Klammer sagt, dass der Text als Klammer zu verstehen ist, die sich beständig in den Text schiebt. Die Klammer sagt mehrfach: Bart(hes)leby, sein Textkörper, klammert (sich auch an) den französischen Philosophen. So wie man eine Wunde klammert und nicht näht, weil sie zusammengehalten werden soll, dass der Spalt pulsieren und mit Lust, Luft zum Atmen zusammenwachsen kann. Die Klammer bringt das Getrennte als ihr Drittes zusammen, ist aber auch das, was die Trennung erst markiert. Im Zusammenhalten zeigt sie das, was nicht zusammen ist als Getrenntes, das, was zusammen gemacht, zusammen gedacht wird, und das, was außerhalb ihrer Einklammerung liegt. Sie trennt und vereint zur gleichen Zeit. Die Klammer legt das Textgewebe in Falten, indem sie dem Text eine Erklärung hinzu gibt, die sie dem Nichtgeklammerten wiederum entzieht, und unterbricht damit den vorherigen und nachfolgenden Text. Als Unterbrechung des Gedankens fügt sie dem Text einen weiteren hinzu, um dann die Ausführung auslaufen zu lassen durch das Ende der Klammer).

Verlegen. „(Alle Kammern und alle Klammern)“, in Werner Hamachers Text ‚Amphora’ (auch) geklammert, öffnen einen Ort, in welchen sich die Räume der Sprachen darstellen. Nach Heideggers Aristoteles’ Lektüre wird der Raum von der Leere gegeben, die kein Mangel ist, sondern räumt. Er räumt sich ein, ohne das Gegebene der Leere zum Verschwinden zu bringen. Das Leere bringt die Fülle hervor. Hamacher hat Heideggers Lektüre gelesen, über-schrieben und absichtlich über-lesen. Denn Leeren kommt nach Heidegger von ‚lesen’, was meint: versammeln: „Das Glas leeren heißt: es als das Fassende in sein Freigewordenes versammeln.“ In dieses Freigewordene klammert Hamacher (gr. hama = Grenze) sein Denken und lässt es in der Kammer der Klammer nieder. Das Denken ist der geräumte Raum, der die Begriffe abgrenzt, und gleichzeitig die Grenze mit den Begriffen teilt. Es (das Geklammerte in der Kammer der Klammer) gibt Raum.

Belagerung Bartleby. Eine Wolke. Ich implodiere in einem wortlosen Punkt, Koma des Sprechens. Ein Komma dazwischen, zwischen meinem wortlosen Punkt und dem Koma. Ich komm nicht dazwischen. Meine Worte laufen Amok: Wenn ich über den weißen Teppich gehe, trage ich Wollsocken an den Füßen, klammere mich daran in meiner Woll-Lust, damit mir nicht kalt wird.

Verstehen. „(hyphos ist das Gewebe und das Spinnetz),“ klammert Barthes am Ende eines Abschnitts. In einem amerikanischen Film kommt ein amerikanischer Filmschauspieler, der einen amerikanischen Filmschauspieler spielt, für Werbefilmaufnahmen nach Japan. Eines Abends klopft eine Prostituierte an seine Hoteltür. Er öffnet, schaut sie an und versteht nicht, was sie von ihm möchte. Sie dringt durch die Türe ein, positioniert sich in der Zimmermitte und stellt ihren Fuß auf einen Stuhl. Als er sie fragend anschaut, deutet sie auf ihre Strumpfhose und fordert ihn auf: „Lip here!“ Sein Blick wird fragender, er versteht nicht, schweigt. Doch sie besteht: „Lip here!!“ – „Lip here!!!“, sagt sie und wirft sich ihm, lost in translation, zu Füßen. Die Fußnote zum Gewe(r)be: Der Schauspieler ist mit seinem Text zu Ende, er kann nicht auslegen, was ihm die Prostituierte anbietet. Die Auslegung scheitert angesichts der Frau, die die Buchstaben l und r – alter Witz über das Reich der Zeichen – velwechsert. Für ihn ist selbst die wörtliche Aufforderung, die er hätte verstehen können, unverständlich, seine Lippen nämlich dort zu platzieren, wo sie es ihm gedeutet hat. Er hat es nicht einmal gewagt, die Lippen an ihrem eigenen Ort zu bewegen, sie bleiben verschlossen, der Schauspieler verstummt vor der Unverständlichkeit dieser Frau. Er kann nicht verstehen, dass sie „rip here“ meint, dass sie will, er solle ihre Strumpfhosen aufreißen, den Stoff, das Gewebe zerreißen, einen Schlitz legen zu ihrem Körper. Er soll die Kleidung zum Klaffen bringen, um an ihre Körperhaut zu kommen. Er soll sie aufbeißen mit den hinter den Lippen hervorgeholten Zähnen, einen Schnitt legen in ihre Textur, mit stummer Erotik des Risses, des Bisses. Das zerklüftete Gewebe hätte dann das zum Vorschein gebracht, was jenseits der Sprache sich verbirgt, einen wortlosen Körper, stumme Liebkosungen der Zunge (langue), jedoch ist der Weg dazu durch die Sprache (langue) verstellt. Das Zerreißen dieses Gewebes, das Lustversprechen ihres Gewerbes, das Lüften des Schleiers, die Öffnung der Textur scheitert am injunktiv nicht gelungenen Sprechakt der Frau: ein perforierter Sprechakt, welcher der Sprache ihren Rest gibt; ein misslungenes ‚r.i.p. here’ rests in peace, der Rest der Sprache verfängt sich im Gewebe der unverstandenen Aufforderung, im engmaschigen, unbeschriebenen Strumpf und webt dort an ihrer Unverständlichkeit weiter. Die Sprache des ‚lip here’ ist mündlich zerrissen und bleibt doch intakt, weil sie nicht transparent ist, weil sie kein Bedeutetes transportiert, vielleicht ein mit der Hand Gedeutetes, weil sie zu dicht gewebt ist wie der Strumpfstoff. Ein mit Stoff umschlossener Text. Beide Texturen bleiben verschlossen, selbstbezogen, sie enthüllen nichts außerhalb von sich, sind die Grenze der Mitteilbarkeit wie auch die Mitteilung dieser Mitteilbarkeit

Ich liege auf der Bühne, meine Augen geschlossen. Ich versuche der Rede zu folgen, doch sie will sich in meine Träume einweben, meinen Schlaf teilen, ihre Worte sind so schwer wie die Grabsteine, die sie Bartleby um den Hals hängt. Neben mir liegt Bartleby, resting in peace. Meine Lippen bleiben geschlossen. Mein Schlaf kommt ins Stocken, ich verstocke. Ich sehe Geister, keine diskursiven Leichen, Körper ohne Organe. Sie spielen die Orgel, Organisten einer akademischen Liturgie, eines requiems for a dream. Diese Geister verfolgen mich. Der Name auf dem Grabstein wird lesbarer.

Auslegen. Der ganze Raum ist ausgeräumt, enträumt, Leere gibt Raum für weißen Teppichboden, der auf allen drei Stockwerken ausgelegt ist (die Pose des Teppichs). Die einzelnen Teilflächen liegen aneinander, Stoß an Stoß. Die Auslegeware liegt über dem architektonischen Teppichboden, ihm überlegt, ihm überlegen und verwandelt den Raum in eine weiße Höhle. Anarchisch-antarktisches Weiß ohne Horizont. Es gibt keine Orientierungspunkte in diesem Raum, wohl aber ein Punctum, das an den anstoßenden Kanten der zugeschnittenen, eingepassten Stücke herausschießt. Das Punctum des Raumes, der überlagert wird, der belagert ist von der Auslegeware, das heraus will und unsichtbar ist. Die Verschneidestellen des Teppichs sind die schmalen Lippen (lip here), die das Herauswollende herauslassen. Der weiße Teppich ist das Semiotische des Textes. Er ist der stumme Ort, der dem Text zuvor kommt, zuvor liegt (Pose). Die Auslegeware kann nicht ausgelegt werden, sie hat keinen symbolischen Tauschwert. Sie ist in ihrer Weis(s)heit kein Objekt der Analyse, eher der Körper einer Vor-Sprache, eines Vor-Sprechens, eines Ver-Sprechens auf einen nicht geschriebenen Text. Zuallererst teilt er sich mit, seine Nahtstellen zueinander, sein Perforativ des reinen (Ein)-Schnitts, durch welche das Ästhetische (das Schöne) ohne Begriff herauslugt. Dieses Ohne ist kein Mangel an Schönheit, an etwas, das dem Weiß fehlen könnte.

Geklammert steht „(for presence cannot use too many words).“ Ich bleibe zum wiederholten Mal an der Klammer hängen, Gumbrecht klammert sich weiterhin daran. Sie öffnet sich mir nicht, gibt sich mir nicht durch das Paradox des Buches hindurch, das die ‚production of presence’ mit vielen Worten be-schreibt. Das Dilemma eines Schreibenden, der Präsenz nur darstellen kann, nicht aber herstellen. Ich komme nicht in diese Klammer hinein, finde keinen Spalt durch sie hindurch, keine Tür. Der geklammerte Satz hat kein Punctum, nur ein Argumentum, eine Satz-Bühne der Behauptung, die nach meiner begrifflichen Sprache mit der sprachlosen Zunge leckt, sie damit zu verführen versucht. Doch ich schweife immer wieder ab (die beste Lektüre ist die, in welcher ich abschweife), hebe den Blick, drehe den Kopf, winde mich, wende mich, denn „mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich“, wie Barthes schreibt. Die Klammer beginnt nun zu lecken, perforiert, öffnet einen Spalt breit ihre Tür, ihre Leck-Türe zu ihrer Kammer, durch die ich meine Finger stecke. Ich lecke hinein.

Einschreiben. Dieses Paradox halten die Körper nicht aus, hält die Körper nicht auf, die Textur des Teppichs mit Schrift-Schnitten zu überziehen, die zur Auslegung zwingen wollen. Sie tragen Botschaften darauf auf, tragen sich darin ein, ich bin hier, sagt das Subjekt und schreibt diese Banalitäten hin. Eine écriture corporelle, ein Hin- und Herschreiben des Textes durch einen Körper, der hin- und herschreitet auf der Textur. Nicht Sinn und Sprache verknüpfen diese kurzen, kruden Texte, sondern die von Sprache und Körper. Dieser muss seine textuelle Spur hinterlassen und damit die Anwesenheit seines Körpers beglaubigen, der in der Spalte der Auslegeware verschluckt zu werden droht. Dem muss er seinen Körpertext entgegenhalten, den Riss schließen, die vermeintliche Wunde klammern. Mit jeder Äußerung ent-äußert sich der Körper ein Stück mehr, unterwirft sich (subjectum) dem Raum-Text, in den er sich gleichzeitig einschreibt, um ihn auslegen zu können. Dem stumpfen Punctum will er mit dem Studium entgegenkommen, will dem weißen Körper sein Symbolisches hineinpressen. Gleichzeitig versucht das Schreiben auf dem Boden, der Bodensatz, originell zu sein, im Gegensatz zu dem an die Wand grafierten Text, der kopiert wird aus Melvilles Buch, von welchem er sich abheben möchte: er will nicht grafieren, sondern gravitätisch sein, bedeutungsschwer vom schreibenden Körper sprechen.

Hamacher verfugt den Klammersatz „(Das Wort Fuge ist selber eine Fuge, ein Ort: es bedeutet einen Spalt und eine Verbindung und verbindet Verbindung und Spalt)“ mit den Dingen, deren Aura der Ort ist. Die Fuge ist die Bedingung dieser Verbindung wie auch die Verbindung zur Bedingung. Sie verfügt ihre eigene Verfugung.

Eindringen. Die Schrift auf dem Teppich will die Textur aufreißen, anmachen. Sie penetriert den unberührten, weißen Spalt, füllt ihn, entlädt (immer zu früh) ihren Textsinn, will ihr Sinnejakulat in den Schlitz verfügen. Penetration der Schrift, ein (zu) lautes Schreiben, ein Stöhnen des Schreibens. In diesem Perforativ des Schreibens (cum shot) kommt dieses nicht zu seinem Signifikat, hinterlässt eine Schreibspur. Es penetriert immer und immer wieder diese Spaltung, weil es diese zu schließen, zu füllen versucht mit Schrift, die in diesem Ohne Platz nehmen möchte: zwecklos. Die Schrift hinterlässt blaue Flecken, weil sie sich nicht tief (paradigmatisch) eingraben kann.

Da Phelans „(a hole other than the mouth and anus, a hole for the Other)“ der Symbolisierung widersteht, sich dem Text, mourning sex, entzieht und die symbolische Ordnung des Textes zum Brechen bringt, muss der ungläubige Thomas seine Finger in die Wunde des Herrn legen. Er muss die Anwesenheit des Körperloches mit seinem Körper beglaubigen. Dieser Finger im unmöglichen Schlitz einer ‚männlichen Vagina’ (Phelan), diesem anderen, horizontalen Loch, dringt in die Brust ein und hält die Wunde, das Wunder auseinander wie zwei Lippen. Er legt die Finger in diese Lippenöffnung der Brust und verfügt sie zu schweigen. Still schauen sie auf die Wunde, an welche sich Thomas klammern muss, um an die Epiphanie, die Körperpräsenz des Herrn glauben zu können.

Berühren. Die Schrift bleibt aber an der Oberfläche hängen, r.i.p.. Der Körper des Schreibenden, dem sich das laute Schreiben aufdrängt, will sich in dem Weiß wie in einem alten Zuhause, seinem Zuhause, gestisch einhausen, um zu sich kommen. Er muss sich den Raum mit seinem Körper erobern, ihn anfassen, zärtlich werden. Die Handschrift des schnörkelnden Körpers (Arabeske?) bringt den Geno-Text sinnlich hervor (Barthes). Signifikanz. Sie, nicht Teil einer Rhetorik, schreibt ganz einfach (keine Arabeske!), schreibt keinen Sinn-Überschuss im oder des Gestischen, sondern ist die Geste selbst. Die Schreibgeste ist weder übersprachlich noch vorsprachlich, sie schießt weder einer vorgängigen Bedeutung etwas Körperliches hinzu, noch entzieht sie sich sprachlich fassbarer Bedeutung. Sie sorgt weder für ein Mehr an diskursiver Bedeutung noch für ein diskursives Zuwenig, und die Geste schert sich nicht um das Signifikat. Sie schießt außerhalb ihrer selbst nichts hinzu, keinen textuellen Sinn, sondern schreibt sich als reine Mit-Teilung selbst auf.

Mit „Fast gelungen“ klammert Baecker seinen während der Belagerung gehaltenen Vortrag und belagert Bartleby beiläufig als Parergon. Das fast Gelungene ist das Gelingen der ästhetischen Potenzialität, die Raum schafft, ein Vor-Werk, in welcher sich das Ästhetische erst niederlassen muss, ohne Platz zu nehmen.

Auslöschen. Mit der gleichen Geste einer Schwärzung, erste Geste der Auslöschung, lässt sich das buchstäblich Geschriebene überschreiben, überschreibt dieses dem Schwarz der Cancellierung, der Überklebung, der Verblindung. Unter dem Schwarz der Überklebung, ein  monochromes Palimpsest, Text-Minus, bleibt das Geschriebene gelassen, nun endgültig verblindet zum Blindtext. Das sich auf dem Weiß auslassende gestische Schreiben lässt endgültig seine Auslegbarkeit aus, gibt die Auslegung auf, stellt die Aufgabe des Aufgebens der Auslegung. Bodensatz der Signifikanz. Mit dem Drehen und Wenden der Auslegeware, zweite Geste der Auslöschung, kommt das Untere nach oben, das Weisse der Textur wird neu verfugt, weisse Streifen angefügt, eingenäht in das andere Gewebe. Das Umdrehen des Gewebes verkehrt das schreibende Einheimeln in eine Verheimlichung des Geschriebenen. Das Geschriebene kommt jedoch heimlich wieder zurück, als ein Unheimliches, das, was immer schon heimlich da war, bislang verborgen, sich entzogen hat.

Mein stammelnder Körper.

De-zitierte Literatur: Roland Barthes: Die Lust am Text, Mythen des Alltags, Rauheit der Stimme, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn; Giorgio Agamben: Noten zur Geste, Potentialities; Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen; Werner Hamacher: Amphora; Afformativ. Streik; Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum; Peggy Phelan: Mourning Sex; Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei; Hans Ulrich Gumbrecht: Production of Presence; Gaston Bachelard: Poetik des Raumes; Mark Rakatansky: Spatial Narratives


Belagerung Bartleby

100 Stunden Installation, Labor, Schlafen, Schreiben, Performance, Lectures, Interventionen

21. April 2004, 20 Uhr bis 25. April 2004 24 Uhr, HAU 1 Berlin

Regie: Claudia Bosse / Konzeptdramaturgie: Peter Stamer / Von und mit: Maya Bösch, Claudia Bosse, Swantje Henkel, Lars Müller, Susanne Sachsse, Kai Schiemenz, Peter Stamer, Oleg Soulimenko, Doris Uhlich u.a.