Essay zum Romantischen Konzeptualismus

Kehricht in der Bawag-Foundation. Auf dem Boden des Ausstellungsraumes liegt ein gelbliches Häufchen. Zwischen drei handvoll Holzspänen lugen hier und da rötliche Borsten hervor. Das, was da fein säuberlich zusammengefegt ist, war einmal ein „Besen“, der von einem Schredder vollkommen zerhäckselt und dann von einem (anderen) Besen angehäufelt wurde. In Kirsten Pieroths Arbeit von 2007 gehört damit zusammen, was zusammengekehrt: sie stellt den Besen in seiner Eigenschaft als Begriff, als Objekt und als Aktion aus. Der künstlerische Dreisprung aus Denken, Material und Geste lässt diese Arbeit in der Ausstellung ‚Romantischer Konzeptualismus’ im Jahr 2007 einkehren, die vierzig Jahre nach der Erfindung der Conceptual Art noch bis 1. Dezember in der Bawag-Foundation Tuchlauben zu sehen ist.

1967 begründete der amerikanische Künstler Sol LeWitt in seinen ‚Paragrafen über konzeptuelle Kunst’ eine Kunst, die „eher den Verstand des Betrachters als sein Auge oder sein Gefühl ansprechen und beschäftigen“ (LeWitt) soll. LeWitt wollte diese Paragrafen nicht als „kategorische Imperative“ verstanden wissen, sondern, gewissermaßen in Ab-Kehr vom amerikanischen Expressionismus und dessen intuitivem Leinwandgetropfe, lediglich einen theoretischen Überbau für sein „augenblickliches Denken“ und sein eigenes Schaffen kreieren. Dennoch lieh er ganzen Künstlergenerationen ihre Legitimation, wenn sie unter dem Begriff der Conceptual Art beweisen zu müssen glaubten, dem sinnlichen Scheinen der Idee seinen begrifflichen Kehraus bereitet zu haben.

Dass sie sich dabei selbst nicht immer an das LeWittsche Verdikt gehalten haben, wonach „jede Idee, die sich besser in zwei Dimensionen formulieren lässt, nicht dreidimensional sein“  sollte, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Schon mehr aber ihre jahrzehntelange Missachtung der Sätze von LeWitt, wonach „konzeptuelle Künstler eher Mystiker als Rationalisten“ seien, die „sprunghaft zu Lösungen gelangen, die der Logik verschlossen“ blieben. Diesen längst überfälligen Konnex zwischen künstlerischer Ratio und Transzendenz holt nun die von Jörg Heiser unter dem Titel ‚Romantischer Konzeptualismus’ kuratierte Ausstellung eindrucksvoll nach. Ihr Ausgangspunkt ist die Reflexion des Romantischen, das nicht nur einen Seitenstrang, sondern einen zentralen Aspekt des Konzeptuellen darstellt. Heiser versteht unter dem Romantischen dabei Motive wie Sehnsucht, Melancholie, Flüchtigkeit, Prozess, die aus den konzeptuellen Arbeiten herausschießen, jene Emotionen und Sentimente, die von der nüchternen Selbstpräsentation der Werke nicht gedeckt werden können.

Bas Jan Aders Filmarbeit etwa „I am too sad to tell you“ (1970/71) zeigt den Künstler 3 Minuten 34 Sekunden beim Weinen. Man sieht sein tränenüberströmtes Gesicht vor einem hellen Hintergrund, die Kamera steht still auf ihrem Stativ, ein stummes Film-Protokoll echter Tränen, die einem sprachlosen Zuviel (too sad to tell) an Traurigkeit entspringen, gewissermaßen objektiv vom Kameraobjektiv eingefangen. Die Lakonie des Dokumentarischen wird überboten von der emotionalen Heftigkeit, die dem Betrachter entgegenläuft, der nicht wissen muss, was die Ursache der Tränen ist; das Gegebene der Emotion ist ihr allein zureichender Grund. Dieser Arbeit wird nicht nur räumlich gegenüber Andy Warhols Film „Kiss“ aus dem Jahre 1964 präsentiert. Eine ähnlich fixierte Kamera zeigt unzählige Paare aller Klassen, Rassen und sexueller Orientierung beim heftigen Zungenkuss. Dabei bricht das Close-Up nicht nur mit einer im Hollywood der 6oer Jahre noch herrschenden Regel, wonach sich im Spielfilm gemischtrassige oder gleichgeschlechtliche Lippen nicht berühren sollten; es nimmt dem filmischen Akt auch die Lächerlichkeit der aufgesetzten Emotion und setzt in diesen „paintings that move“ (Gerard Malanga) an die Stelle von dusseligen Lippenbekenntnissen so etwas wie heitere Innigkeit. Ready-Mades serieller Zärtlichkeiten in Nahaufnahme. Während es bei diesem Spiel der Zungen gewaltig in den Mundwinkeln juckt, kommt Yoko Onos „Match“ aus dem Jahre 1966 auf den ersten Blick so spröde daher wie das darin gezeigte Streichholz. Dieses wurde mit einer Hochgeschwindigkeitskamera beim Abbrennen gefilmt, präsentiert aber in dem für 16mm üblichen Tempo. Das Streichholz brennt in Nahaufnahme und in realzeitzenthobener Langsamkeit vom Köpfchen zum hölzernen Körper herunter, die Verlangsamung jedoch entzündet im vergleichweise profanen Vorgang ein Fanal existenziellen Pathos’: Einmal entflammt, verwandelt Feuer alles, was Materie ist, dauerhaft in Asche.

Weinen, Küssen, Brennen, das sind die grundlegenden Konzepte, die diese Arbeiten zu behandeln scheinen. Als handele es sich bei ihnen um Labor- oder Lehrfilme, die aus narrativ-neutraler und distanzierter Kameraposition grundlegend menschliche oder dinghafte Eigenschaften objektivieren wollten, diese einer Material- und Denkprüfung unterziehen. Abgelöst von den lebensweltlichen Umständen, in welche diese Vorgänge eingebettet sein könnten, erscheinen sie als konzeptuelle Infinitive, die aus jeglichem Motivationskontext enthoben wurden. Weinen, Küssen, Entzünden, grundlos. Sie erzählen weder den Kausalnexus mit (Ader), noch sind sie emotional (Warhol) oder narrativ (Ono) gerahmt. Gleichzeitig lassen sich diese Infinitive aber nicht einfach auf ihren zeichenhaften Informationswert reduzieren, der mit einem Blick zu verstehen wäre. Diese Konzepte des Tuns binden stattdessen Zeit an sich. Onos Verlangsamung, Warhols Serialität, Aders Andauer repräsentieren nicht ein Tun, wofür dann das jeweilige Bewegungsbild stehen würde. Vielmehr lassen sie das gezeigte Konzept, dem man sich kognitiv nähert, durch zeitliche Überdehnung leerlaufen; es entsteht ein Zeitbild, dessen vornehmlichste Qualität es ist, dass man bei ihm selbst haften bleibt. Dass man es SEHEN muss, ohne einen Erklärungskontext herstellen zu können, der diese Infinitive gewissermaßen finalisierte, auf ein zu Lesendes hin auflösen, zu einem Ende bringen könnte. Warhols Kiss-Serie beispielsweise kann auch deshalb als ein Bruch mit der Repräsentation gesehen werden, weil sie die Darstellungsweisen des Hollywoodkinos unterlaufen, wie sie von dem sogenannten ‚Hays Production Code’ geprägt waren; danach durfte kein Kuss länger als drei Sekunden auf der Leinwand dauern und zu sehen sein. Drei Sekunden, das ist die Spanne, die der Zuschauer braucht, um eine Situation kognitiv erfassen und wiedererkennen zu können. Über die Dauer stellt sich dagegen eine Performativität her, welche das soziale Wiedererkennen des allzu Profanen in einen ästhetisch aufgeladenen Akt transformiert, transzendiert. Als würde die Zeit das Konzept durchlässig machen und Leerstellen öffnen, in welche dann Sehnsuchtsmaterial hineinschießt, ohne diese Leerstellen konzeptuell besetzen zu können. Dieses Sehnsuchtsmaterial dann lädt den Begriff als Akt auf, der Zeit braucht, selbst Zeit verbraucht, Zeit als gegebenes Ereignis verendlicht.

Die Lebenszeit, die gegeben wird oder nicht mehr bleibt, relationiert alle Konzepte und stellt diese vor den Horizont der Existenz, wo sie ganz klein und unbedeutend erscheinen. Die beiden Uhren, die der 1996 verstorbene Künstler Felix Gonzales-Torres nebeneinander schlagen lässt, zeigen auf dieses Ende unerbittlich hin, zeigen dieses an. In gleicher Höhe angebracht, berühren sich ihre Gehäuse fast zärtlich und sind dennoch füreinander unerreichbar. Ihre Zeiger entbieten die gleiche Tageszeit, aber jede Uhr tickt für sich alleine, abgeschlossen hinter Glas, ihre Zeit voran. Tick, tack, tick, tack, tick, tack drehen sich die Zeiger um sich selbst und lassen doch die Zeit voranschreiten, uneinholbar. Die ‚Perfect Lovers’, so der Untertitel dieser Installation, sind, auch wenn sie im Gleichtakt schlagen, immer schon zu spät, weil sie auf nichts Anderes zulaufen als ihre eigene Auslöschung, die namenlos betitelt, ‚Untitled’, keinen anderen Namen als den des Todes tragen kann. Immer noch aber laufen diese Uhren nach dem frühen Tod des Künstlers und dessen Freundes weiter, immer weiter, als wollten sie das Zeitliche nicht segnen, sondern über es hinaus gelangen. Time Bandits.

Die Bändigung der Zeit könnte Douglas Huebers Fotografiearbeit „Duration Piece #31 (Boston)“ auch genannt werden. Genau eine Achtelsekunde vor dem Jahreswechsel 1973/1974 hat der Künstler mit der Belichtungszeit von einer Viertelsekunde eine in die Kamera lachende Frau fotografiert. In dem unter das Foto gesetzten Text ist zu lesen, dass sich zum Zeitpunkt der Aufnahme eine Hälfte ihres Körpers noch im Jahr 1973 befand, während sich die andere bereits im Jahr 1974 aufhielt. Zwei Zeiten in einem einzigen Augenblick, ein Körper, der sich zur gleichen Zeit in zwei verschiedenen Zeiten befindet, dessen Gegenwart sich in nichts Anderem aufhält als in dem Spalt zwischen Vergangenheit und Zukunft, dem Riss zwischen dem, was war und dem, was noch zu kommen ist. Infinitives Sein, transzendiert in dieser Viertelsekunde, konserviert in diesem Fotodokument.

Der Augenblick der Gegenwart ist demnach jener, der nicht anwesend ist. Doch dieser Moment der Gegenwart weiß nichts von sich. An einer weißen Wand der Bawag-Foundation, fast unmerklich, hauchdünn mit Bleistift hingeschrieben, steht ein Satz des 1936 geborenen John Barry zu lesen:

„ALL THE THINGS I KNOW

BUT OF WHICH I AM NOT

AT THE MOMENT THINKING –

1:36 PM JUNE 15.1969“

Man kann den Satz so interpretieren, dass man nicht immer an die Dinge, die man weiß, denken muss; man weiß sie trotzdem. Aber weiß man sie im Moment des Denkens selbst? Denn in dem Moment des Dazwischens, in der Gegenwart des Denkens verschwindet alle Gewissheit, ist alles, was gewusst wird, abwesend. An die Stelle dieses Wissens tritt das Mystische des Moments, den man, um ihn tatsächlich festhalten zu können, dokumentieren zu können, aufschreiben muss. Wenn man ihn aber aufschreibt, ist dieser Moment bereits vorüber, weil er gedacht zu werden verlangt: am 15. Juni 1969 um 13.36 Uhr begrüßt und verabschiedet John Barry gleichermaßen den Augenblick, grafiert dem Wissen um die Gegenwart ein Epitaph, ein Graffiti an der Wand.

Wissen ist immer anderswo als das momentane Denken, als das Denken im Augenblick. Es ist das, was das Denken übrig lässt, was sich in Schrift, Medien, Fotografien, Filmen, Objekten auflesen lässt, nicht aber im Prozess der Schaffung dieser Artefakte abzulesen ist. Diese wissen im Moment nichts von ihrem Wissen. Die Bawag-Ausstellung ‚Romantischer Konzeptualismus’ beleuchtet dieses Wissen unter seiner kuratorischen Perspektive von Neuem. Gerade, weil sie 40 Jahre Konzeptkunst in die Gegenwart zu holen versucht, deren ästhetisch-strategische Aktualität ausstellen kann, gelingt es ihr, das Romantische daran zu behaupten und aufzuzeigen. Diese Romantik nämlich entsteht auch aus eben jener ungleichzeitigen, asynchronen Position von Betrachtungs- und Werkzeit. Wir sind zu spät. Wir haben die Arbeiten in der Zeit, in welcher sie entstanden sind, nicht gesehen. Wir begegnen diesen Arbeiten zu spät, wie Pieroths „Besen“, der vor unseren Füßen liegt, den wir in seiner Gestalt als Besen aber nie gesehen haben. Nun gehen wir mit seinen Resten, seinem Kehrricht um, kontemplieren ihm hinterher und halten bei ihm romantische Einkehr.