On Time (2007)

Essay on the occasion of the eponymous workshop, hosted by Peter Stamer and Philipp Gehmacher at ImPulsTanz Vienna, July 2007

Dance takes place “in time”. “In time” you may imagine so that every movement is surrounded by a time cover carrying it invisibly through space. Choreography and dramaturgy create a special relation of bodies in time and space for the movement composition in performance. Simply said you may describe choreography as a production of space that is created by bodies moving towards and with each other. Dance dramaturgy puts its focus on the organization of time in which body and space are put into relation. The choreographic and dramaturgic production of space-time on stage meets then the perception of the audience. On the one side they are sharing the same life time with the performers in the moment of the performance, on the other side each audience member has his/her very own experiental time s/he cannot share. Thus in each dance performance different concepts and expectations of time meet yet communicating with each other between stage and audience space. The asthetic experience – meaning what is experienced as a specific accentuated moment of theater from whatever movements and gestures are presented on stage – only happens when the theatrical production and the subjective perception of time fall in unison.

This relation gives the choreographer and the dancer the important task to consider their dramaturgic approach of time in their choreographic concepts and theatrical realizations. What are the dramaturgic considerations choreographers and dancers have for their projects and performances? How do they deal with time on the contemporary dance stage? Is time a vehicle to show bodies in movement or does time show by itself? When does long time become boring time? Where does amusement make time too short? Is there a right moment, a right rhythm, a right length for every specific choreographic movement and dance concept?

This coaching project examined practically and theoretically ways and concepts of time for dramaturgy and choreography. Each participant was supposed to bring in and present a movement phrase or theatrically framed sequence of 3 to 5 minutes during the week. Taking those as a starting point the group searched to match the choreographic issues with their perceptions and put them into the discourse. We added texts, films, and dance performances of the festival to the research.

Kurze Überlegungen zur Zeit auf dem Theater

I.

Was sind die dramaturgischen Überlegungen, die Nachwuchschoreografen für ihre Projekte und Aufführungen anstellen? Woher kommen sie, wer hat sie ihnen vermittelt, und vor allen Dingen: wie bewusst sind sie ob ihres Einsatzes der Mittel? Was bedeutet der Umgang mit Zeit auf der zeitgenössischen Tanzbühne? Wie wird Zeit strukturiert? Ist sie nur ein Container, um eine Geschichte zu erzählen, Bewegungen ausführen zu können, den Körper zu zeigen, oder übernimmt Zeit selbst eine Bedeutung innerhalb der Aufführung? Wird zwischen Moment, Augenblick und Dauer unterschieden? Der Umgang mit ‚Zeit’ scheint die Aufführung wesentlich zu strukturieren, und damit die Wahrnehmungszeit, Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft des Publikums.

Es scheint, dass viele zeitgenössische Arbeiten der Abfolge von Szenen den Vorzug geben, einem gleichrangigen Nacheinander von Szenen. Das mag historisch damit zusammenhängen, dass Performance dem hierarchischen Spannungsaufbau misstraute und diesem das Konzept der szenischen Gleichwertigkeit entgegensetzte. Pina Bausch war wohl eine der bekanntesten Choreografinnen, welche die Collage als dramaturgisches Kompositionsmerkmal vieler kleiner Geschichten verwendete, deren Zufälligkeit sie in den Vordergrund stellen wollte, um zu erzählen, was diese Menschen bewegt, wie das Leben den Menschen zufällt. Die ästhetische Ideologie dieser kleinen Erzählungen erscheint mittlerweile (2009) anscheinend nicht mehr zeitgemäß, das Pathos des sozial relevanten Tanzes ist gewichen einer konzeptuellen Verknüpfung von Objekt, Körper und Begriff. Das Erbe Jerome Bels wiegt dabei schwer. Seine Arbeiten zeigen wie keine anderen, wie sehr ‚les mots et les choses’ jeweils ungleiche Geschwister sind, wie die Ordnung der Dinge selbst auf den Prüfstand gestellt werden kann, wenn das parataktische Zeigen von Objekten oder Körpern mit dem aufgerufenen Kontext zu kollidieren scheint. Der Umgang mit Zeit in Bels Arbeiten soll genau die Lücke aufzeigen zwischen den Objekten und ihren mentalen, begrifflichen Besetzungen. Zeigt Bausch mit ihrer Collage das Palimpsest, die Übermalung, Häufung von verschiedenen, heterogenen, sozial hergestellten Körpern, so führt Bel im Nacheinander die vermeintlich gegebene Struktur vor, dass das Soziale selbst wiederum ein Konzept ist; zeigt Bausch die kulturelle Verknüpfung, so geht es Bel um die Bedingungen dieser Verknüpfungen.

Beide Choreografen haben mittlerweile ganze Generationen von anderen Künstlern gerade auch durch ihren dramaturgischen Stückaufbau geprägt. Die Generation Bel nun, so scheint es, übernimmt den Zeige- und Vorführgestus von Objekten und Körpern, tut aber häufig so, als sei Zeit nur das notwendige Medium, das sie brauchen, um zu zeigen. Was übrig bleibt, ist nicht mehr die Dekonstruktion von Zeit als langer Weile, sondern eine Langeweile. Als Ausnahmen hier dürfen u.a. Boris Charmatz oder Philipp Gehmacher genannt werden. Charmatz hat mit dem Anfang von regi gezeigt, dass Zeit selbst gezeigt werden kann, dass sie transparent sein kann im Vorgang des Verstreichens; bei incubator (2004) wurde versucht, Zeit in ihrer Dimension als Aufmerksamkeits- und Sinnsteuerung inszenatorisch einzubinden. Auf der choreografischen Raumorganisation hat dabei die Langsamkeit der Geste wie auch der ausschreitenden Bewegung ein eigenes Tempo in den Raum gestellt, der durch die für Gehmacher typische, von ihm ‚organisch’ genannte Lokomotion („Schritt, Schritt, Schritt, Geste“) zusätzlich rhythmisiert wird.

Die musikalische Ebene von incubator lief dieser Temporalisierung jedoch entgegen. Songs und Soundtracks führten in einen anderen Zeitraum, der im wesentlichen von zwei Erfahrungsmomenten konstruiert wurde. Zum einen setzte der Einsatz (sentimentaler) Songs im Hörer durch die intensive Hörerfahrung Erinnerungen in Gang, die den Song zum Soundtrack eigener, privater Erinnerungen machten, zu jenem inneren gefühlten Film, welchen der Song aktualisierte. Zum anderen verspielte sich diese dichte Erfahrung von Hier und Jetzt, die den Hörer bei einem berührenden Song überkommt, jedoch mit jedem Wiederholungsversuch, der auf eine identische Gefühlserfahrung hoffte. Er war insofern „precious“, da er Gefühle mit der Erinnerung kurzschloss, insofern aber auch „precarious“, weil diese erinnerten Gefühle wie auch gefühlte Erinnerung in ihren intensiven Momenten nicht wiederholbar waren. Der filmische Soundtrack wiederum öffnete einen Erinnerungsraum, der eindeutig auf eine andere Szene als die Bühne zeigte. Durch die nicht präsenten Geräusche, Stimmen, Töne, Erzählungen, die durch den Soundtrack präsentiert wurden, hielt eine andere, fremde Zeit auf der Bühne Einzug. Insgesamt spielte bei diesem Projekt der bewusste Einsatz nostalgieproduzierender Mittel, die inszenatorische Verspannung von Gegenwart und Vergangenheit zur Schaffung von Emotion und Verlust eine wichtige Rolle.

II.

Wenn Wahrnehmung sich immer in Zeit vollzieht, umgekehrt sich auch in Wahrnehmung Zeit erfahren lässt, dann ergibt sich eine wechselseitige Beziehung von Zeitproduktion und -rezeption. Zwar ist die ontologische Prämisse, nach welcher Raum und Zeit grundlegend für unsere Existenz sind, nicht hintergehbar, wenn man jedoch den Maßstab des Ästhetischen anlegt, lässt sich das Verhältnis von Raum und Zeit anders befragen. Anders heißt hier, dass ästhetische Erfahrungen immer am Schnittpunkt von Produktion und Rezeption, von objektiv Wahrnehmbarem und subjektiv Wahrgenommenem entstehen. ‚Anders’ bedeutet, dass Zeit und Raum sich aus dem gegebenen Kontinuum herauslösen und different werden als (subjektive) Erfahrungen von Aufschub, Beschleunigung, Verlangsamung oder Zergliederung. Eine ästhetische Erfahrung ist damit immer eine vom ontologisch gesetzten oder ontologisch aufgefassten Raum und seiner Zeit differente, abweichende Erfahrung, die sich dennoch als Abweichung ‚von etwas’ auf die spatiale und temporale (Alltags-)Erfahrung beziehen lässt.

Theaterräumen eignet nun eine eigentümliche Zeitqualität. In ihrer Anlage als Black Box sollen sie als neutrale Container jede denkwürdige Besetzung ermöglichen, einen Erzählraum für Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges anbieten. Der Raum soll also selbst hinter das, was im Stück erzählt werden soll, zurücktreten. Die Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts haben nun versucht, den Theaterraum selbst sprechen zu lassen. In einer Neuaufteilung von Zuschauer- und Bühnensituation (Auflösung des Guckkastentheaters zugunsten der Raumbühne), durch Theatralisierung von öffentlichen oder privaten Räumen (site specificity, Küchentheater), in der Synchronisierung von Erzähl- und erzählter Zeit (narrativer Zusammenfall der Darstellung mit dem Dargestellten), aber auch durch die den Theaterraum selbst generierenden baulichen Gegebenheiten (Brandmauer, Züge, Vorhang) wurde ‚Theater’ und seine Bedingungen selbst zum erzählenden Raum. Unter dem Stichwort der Materialität lassen sich jene räumlichen Objekte fassen, welche in den Erzähl- und Darstellungsprozess von Theater in ihrer je spezifischen Besonderheit Eingang gefunden haben. Auf der Ebene der Zeitbehandlung lässt sich Materialität als Erfahrungsmoment erschließen, wenn man ihre narrative Überdehnung in Betracht zieht, Zeitlupentechniken, Momente der Wiederholung, die allesamt Zeit selbst sichtbar machen wollen: nicht länger nur als Medium eines linearen Ablaufes, an den Handlungen gebunden sind (‚Dinge finden in der Zeit statt’), sondern als Kennzeichnung von ungewöhnlichen, eben differenten, ‚aus der Zeit gefallenen’, dadurch ästhetisch eben anders markierten Welten.

Der Theaterraum organisiert jedoch auch selbst eine Zeitform, die abseits von diesen markierenden Prozessen wahrnehmbar ist, die sich jenseits von theatralen Kontrastmitteln erschließt. Das Betrachten des leeren Theaterraums, der gerade nicht als Ort von darin potenziell stattzufindenden Handlungen oder Bewegungen imaginiert wird, sondern in seiner Leere zu fassen ist, erschließt eine andere Raumzeit. Gleichzeitig regelt die architektonisch konzipierte und funktionelle Ausführung des Theaterbaus (Anordnung der Bühne zu Zuschauerraum, laterale Ausrichtung der Bühnenzugänge) die Richtung, in welcher die Darsteller auf die Bühne kommen. Inwiefern diese bauliche Ausführung auch die konzeptuelle Blaupause für die Auftrittsrichtungen liefert, hängt zum Teil von der Verwendung von raumkaschierender Theaterdekoration ab. Jedoch wäre zu untersuchen, ob der Theaterraum nicht nur ein Container für Erzählungen über Zeit (Darstellung) oder Erzählungen von Zeit (Materialität der Nutzungsablagerungen des Raumes), sondern Zeit selbst räumlich organisiert. Verfügt der Raum über eine eigene Zeit, gibt er eine Zeit vor, verlangt er eine gewisse Zeitbehandlung, um eine ästhetisch differente Wahrnehmungsproduktion zu ermöglichen? Fordert der Raum eine Bewegung im Uhrzeigersinn oder dagegen, würden diese Bewegungsrichtungen dann Zeit anzeigen? Fördert umgekehrt eine Kreisbewegung die Wahrnehmung von Zeit?

III.

Während die Betrachtung von Raum von Überlegungen der Spatialisierung ausgehen, wonach Raum ein Produkt von Handlungen wäre, wobei Verräumlichung bedeuten würde, das produzierende Verhältnis von Körpern und Objekten zu betrachten, gehen Strategien der Temporalisierung von Raum zunächst von anderen Prämissen aus. Temporalisierung fragt nicht nach dem sich ablagernden Effekt von Körpern im Raum, sondern bezieht Wahrnehmungsvorgänge selbst in die Produktion von Raum ein. Diese lassen sich u.a. als Rhythmisierung von Raum beschreiben, wobei sich Abstände oder Gliederungen von Raum als spatiale Taktung zeigen. Darüber hinaus schreibt sich die Geschwindigkeit von Objekten in die Wahrnehmung von Raum darin ein. Zeit wäre damit insofern ein Produktionsfaktor von Raum, als Bewegung, ein konstitutives Moment für das Verhältnis von Körpern, über deren Abstand hinaus Raum immer neu verhandelt. Temporalisierung relationiert räumlich die Objekte zueinander, verflüssigt das Spatiale und hält Raum in Bewegung.

Gleichwohl scheint dem wahrgenommenen Raum Zeit nicht nur als Sediment oder Taktung anzuhängen, er ist schließlich nur in Zeit und als Zeit wahrnehmbar und damit nicht von Zeit zu lösen. Raum ist somit nicht nur als Wahrgenommenes oder im Vorgang der Wahrnehmung temporal, in welchem Bewegung von und zwischen Objekten als auch die Bewegung des Wahrnehmenden selbst konstitutiv sind, Raum, so die These, hat selbst eine u-chronische Qualität. Analog zum Begriff der Utopie, welche einen Raum-Ort meint, der nicht ist und nie werden kann, gleichwohl aber potenziell ist, geht es hier um einen (möglichen) Begriff der Uchronie.

Utopie, der Nicht-Ort, meint einen Raum, der keinen eigenen Platz hat und diesen auch nicht finden kann. Utopie begreift Raum, ohne Raum konkret greifen zu können. Die Potenzialität des Utopischen liegt nicht etwa darin, dass sich die Utopie noch nicht realisiert hätte und sich irgendwann verwirklichen ließe, sondern gerade in ihrer Raumlosigkeit, die nie sich verräumlichen lässt. Utopie hat damit keine Zukunft, gerade deshalb ist sie als (Denk-)Raum produktiv für die Präsenz eines Denkens des Potenziellen. Sie steht damit außerhalb von Zeit, weil sie sich nicht temporal bestimmen lässt. Das Denkmoment der Utopie entfaltet seine Kraft damit nicht in seiner räumlichen Unbestimmtheit, sondern in seiner zeitlichen Uneinholbarkeit. Sie ist nicht quantifizierter und quantifizierbarer Zeitraum. Entsprechend, so die Überlegung, ließe sich Uchronie als eine der Raumkategorie angehörende, jedoch spatial nicht fassbare Zeitlichkeit denken, deren Potenzial dem Raum anhaftet, ohne zeitlich messbar zu sein. Als Nicht-Zeit setzt sie den Raum erst als Räumliches, gibt ihm eine Raumzeit, die dem Spatialen eigen ist. Sie lässt sich, ähnlich wie die uneinholbare Zeitlichkeit der Utopie, nicht verräumlichen, bleibt aber dennoch dem Raum eingeschrieben. Als solche würde sie weder mit der Wahrnehmungszeit oder der wahrgenommenen Zeit von Raum korrelieren, sondern wäre selbst potenzielle Raumzeit. Ähnlich der Utopie, die auf keine Zeitachse zu projizieren wäre, ohne ihren Status des Utopischen aufgeben zu müssen, lässt sich die Uchronie nicht auf den Raum übertragen; die uchrone Raumzeit hängt dem Raum an, wie der utopische Zeitraum an das Zeitliche als Nicht-Zeitliches gebunden ist.

IV.

In dem Film Jezebel (William Wyler, USA 1938) spielt Bette Davis eine Südstaatenschönheit in der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, die sich etlichen Heiratsversuchen entzieht und stattdessen versucht, ein unabhängiges Leben zu führen. Der Titel des Films greift den Namen ihres Pferdes auf, mit welchem ‚die Davis’ durch die staubigen Weiten der Südstaaten zieht, auf die Ranch kommt und geht, wenn sie will. In einer Szene des Films gibt sie einen großen Empfang, zu dem neben der ganzen Gesellschaft auch zwei ihrer unglücklichen Verlobten eingeladen sind. Sie kommt allerdings wie immer zu spät: „That girl was never on time for anything in her life.“ Als sie mit einem fulminanten Ritt an der Ranch anlangt, von ihrem Pferd steigt, folgt ihr die Kamera auf dem Weg ins Haus. Die Kamera bleibt hinter ihr, als die Bediensteten ihre Reitsachen abnehmen, man folgt ihrer Perspektive, sieht, wie die Menschen bewundernd zur Seite treten. Die Kamera zieht auf, als sich die Türen zu den diversen weitläufigen Salons öffnen und wechselt plötzlich von der vertikalen, verfolgenden Position in die horizontale, das Bild schneidende Perspektive. Die Kamera zeigt Davis, wie sie von RECHTS nach LINKS in die Räume geht und auf ihrem Weg durch ihre Gäste auf Freunde und Bekannte stößt, die sie seit langem kennt. Je tiefer sie in die Räume eintaucht, umso ältere Geschichten, vertraute Gesichter tauchen auf. Sie legt, kameraperspektivisch vermittelt, den Weg in ihre eigene Vergangenheit zurück.

Über die in Jezebel nahe liegende Zeitdramaturgie hinaus bietet sich die Überlegung an, im Kino die Frage einer erzählten Zeit zu untersuchen, die sich über die Kamerabewegung selbst einstellt. Lässt sich im Hollywoodkino eine kinematografisch gewordene Kulturtechnik ablesen, wonach die herkömmliche Wahrnehmung und Produktion von Zeit sich entlang von Schrifttechniken erläutern lässt? Wenn am Ende des Films der Hollywood-Protagonist in die ‚ungewisse Zukunft’ fährt, kreuzt er dann das Kamerabild von links nach rechts, um dann am Horizont zu verschwinden? Springt das Auto von Thelma & Louise nicht von links nach rechts in den Grand Canyon? Wäre die Bewegung von links nach rechts also, wie sie unsere Schrift für die Produktion von Texten und Sinn verlangt, medial übertragbar auf die unterlegte Zeitbilderzählung des Mainstream-Kinos?

V.

Im gegebenen Raum, der sich phänomenologisch tatsächlich nur in Wahrnehmungs- und wahrgenommener Zeit dem Betrachter geben kann, trägt sich Zeit als eine schon in ihm eingeschlossene und durch sie hervorgebrachte Raumdimension ein. Könnte man Raum nun an einer gedachten vertikalen Achse spiegeln, jedoch ohne dabei die spatialen Verhältnisse von Körpern zu verändern (die raumkonstitutiven Abstände und interrelativen Bewegungen der zur Konstitution von Raum notwendigen Körper), dann würde diese Spiegelung die spatiale Ausrichtung von Bewegungen umkehren, ohne die räumlichen Skalierungen umzudrehen. Die Zeit, so die Hypothese, würde durch diese Umkehrung aus dem Raum herausfallen und als spatiale Gegebenheit in diesem Bruch erst in Erscheinung treten. Da diese Spiegelung sich in der Wirklichkeit nicht realisieren lässt, müsste diese Hypothese in einer medialen Versuchsanordnung experimentell überprüft werden, in der Voraussetzung eines Wissens um die damit immer bereits stattgefundene Übersetzung in das Filmbildmedium. Die dahinter stehende Frage wäre, ob der damit in seiner merkwürdigen Verschiebung empfundene Raum aufgrund der durch seine Links-Rechts-Vertauschung gegenläufigen (und nicht rückläufigen!) Zeitlichkeit des Raumes anders erfahren wird und ob sich diese Differenz nicht eher als eine zeitliche denn als eine räumliche niederschlägt. Was würde es also bedeuten, wenn man bei einem Film die Seiten vertauschte, ihn also über einen Spiegel projizierte? Würde man in dieser Vertauschung lediglich den Raum merkwürdig wahrnehmen oder würde diese Unheimlichkeit auf einer gegenläufigen Verzeitlichung gründen, weil sich die Zeitachse diametralisiert?

VI.

Es gibt diesen Witz von Woody Allen (aus ‚Alle sagen: I love you’): „Ich könnte mich in Paris aus dem Fenster stürzen, mit der Concorde nach New York fliegen lassen und wäre in Manhattan noch drei Stunden am Leben.“ Wenn jemand um 18 Uhr Ortszeit stirbt, wäre er weiter westlich noch am Leben, weil die Welt eben in Zeitzonen (0 Grad Greenwich, 180 Grad Tonga oder Kiribati) aufgeteilt ist. Natürlich ist das ein Bonmot, denn wo der Tod ist, dieser Weltmeister aller Zeiten, kann kein Leben mehr sein. Der Tod ist außerhalb der Zeit, er kennt zwar ein zu früh oder zu spät (only the good die young, und manchmal wünscht man sich doch das Unaussprechliche, dass jemand …), ist er aber eingetreten, ist er unendlich, zeitlos. Es soll einige Menschen geben, die an ein Leben nach dem Tod glauben, wie sie sich das aber unter zeitlichen Gesichtspunkten vorstellen, konnte man noch nicht ganz erklären. Denn die Überwindung des Todes wäre auch das Ende der Zeit: das ewige Leben. Aber wäre das dann noch für ein Leben, das doch an die Existenz und damit an die Zeit gebunden ist? Es ist ja klar, dass die Zeitzonen nur ein Maß der relativen Zeit sind, insofern, als Zeit relativ zum Stand der Sonne ist. Obwohl die irdische Zeit begrenzt und für alle unterschiedlich ist, bleibt die existenzielle Erdzeit für alle gleich. Die Erdzeit wäre der Moment, den alle Menschen teilen. Gleichzeitig aber leben diese Menschen in verschiedenen geografischen Erdteilen, die vom Lauf der Erde um die Sonne unterschiedlich überzogen werden. Vom Licht der Sonne hängen bekanntlich die Tageszeiten ab. Während ich dies schreibe, schläft der Großteil der Menschen in Los Angeles noch, während sie sich in Tokyo bereits zum Abendessen treffen. Wir sind also im Moment zur gleichen existenziellen Zeit auf dieser Erde, leben aber in unterschiedlichen physikalischen Tageszeiten. Im Zeitalter globalen Reisens eine Banalität. Zu Zeiten der Entdecker aber gab es ein großes Problem. Magellans Schiff, dem zwischen 1519 und 1522 die erste Weltumseglung gelang, kam in Spanien an und war – in der falschen Zeit. Das von den Matrosen vermutete Ankunftsdatum wich von jenem in Spanien ab. Sie zählten die Tage, die sie auf See verbrachten, ihnen fehlte aber ein Tag. Das war aber nicht ihr größtes Problem. Die Mär geht, dass sie nun dachten, sie hätten sich an ihrem Gott versündigt, da sie einen wichtigen Feiertag verpasst haben könnten. Der erste Gang war nun in die Kirche, um Vergebung für ihre Sünden zu erbitten. Sie wären besser zum Astronomen gegangen. Der hätte ihnen sagen können, dass die Kugelgestalt der Erde ein Problem aufwirft: das der Datumsgrenze. Wer von Westen nach Osten fährt, durchquert den 180. Längengrad. Davon konnten die Spanier allerdings nichts wissen, dass sie damit auch die Datumsgrenze überschiffen, die ja auch erst 1845 gesetzt und eingeführt wurde. An dieser Linie treffen zwei Tage aufeinander, nämlich die letzte Stunde des vorigen und die erste des darauffolgenden. Umberto Eco hat darüber ein ganzes Buch geschrieben mit dem Titel „Die Insel des vorigen Tages“ und darin seine Hauptfigur, Roberto de la Grive im Jahre 1643 nach langer Irrfahrt auf einem Eiland in der Südsee stranden lassen, die vom 180. Längengrad geteilt wird. Roberto halluziniert, dass er zur gleichen Zeit in zwei verschiedenen Tagen sich aufhalten könnte, indem er einfach das eine Bein in den vorigen Tag, das andere in den darauffolgenden stellt. Er wäre außerhalb der Zeit, könnte an einem Tag einen Mord begehen, der an dem diesem vorangehenden Tag nie stattgefunden hätte. Er würde nie einen Tag älter werden, weil er immer einen Tag zurückgehen könnte. Er wäre – zwischen allen Zeiten. Ein faszinierender Gedanke, gerade in seiner Absurdität. Natürlich lässt sich die Zeit nicht aussetzen, dennoch ermöglicht diese Überlegung einen anderen Gedanken. Wenn man nämlich Raum auf seiner West-Ost-Achse in immer kleinere Längengrenzen unterteilte, deren Abstand also zueinander verringerte, diese also nicht nur in Stunden, sondern Minuten, Sekunden herunterbrechen würde, dann wäre man immer zur gleichen gemessenen Zeit in zwei oder mehreren Zeiten, da die Erde sich ja unaufhörlich weiter dreht, wenn man sich räumlich in gegenläufiger Richtung über diese kleinen Longitudinaleinheiten bewegt. Man würde in andere Zeiteinheiten springen und dafür nur wenige Meter benötigen, und könnte die Zeit anhalten, beschleunigen, dehnen. Auf einer Bühne von 10 Metern Breite, die sich entlang der West-Ost-Achse ausdehnt, läge jeder Meter in einer anderen Zeit.

Es geht bei der Analyse der Zeit nicht darum, ein objektiviertes Raster für die Zeitanalyse zu schaffen, sondern die Wahrnehmung der Zeitlichkeit, als eine Wahrnehmung der Differenz (vgl. Hans-Thies Lehmann) zu etablieren. Zeitlichkeit oder Temporalität ist damit immer eine Zeitauffassung, die relational ist: im Verhältnis der Zeitaufmerkungen, -organisationen und –wahrnehmungen zueinander. Daher hat die Zeiterfahrung eine starke Verbindung zur ästhetischen Wahrnehmung, die Wahrnehmung der Aufführung. Wir könnten sogar sagen: die ästhetische Wahrnehmung findet nur statt, wenn wir die Zeit vergessen. Wie Zeit vergeht, ist im Moment selbst nicht bemerkbar. Der Moment fällt mit der Zeit zusammen. Erst im Rückblick oder in der Vorausschau, in jenen Momenten also, die noch nicht sind, tritt Zeit hervor, im bereits Verstrichenen nicht mehr wie im zu Kommenden noch nicht. Die Gegenwart ist aber nicht einfach die Negativität von Noch Nicht und Nicht Mehr, definiert sich also nicht über ein ausschließendes Weder-Noch, sondern bleibt als Erfahrung präsentiert. So sind Zeit und Erfahrung miteinander verbunden. (Entsprechend heißt aus der Zeit fallen, Erfahrungen anders wahrzunehmen.) So sind Zeiterfahrung wie auch Erfahrungszeit besondere Momente. Ersteres ist die Erfahrung von Zeit selbst, zweiteres die Zeit, in welcher sich Erfahrung einspielt. In dieser Verbindung erst lässt sich ästhetisch wahrnehmen, da Theater oder Tanz durch bestimmte Zeitverfahren sowohl Zeit transparent machen können (Zeitbild) als auch besondere Erfahrungszeit auslösen.