Im Rahmen des deutsch-französischen Kooperationsprojekts Transfabrik

Yvane Chapuis und Franz Anton Cramer hatten für Transfabrik ein studentisches Begleitvorhaben konzipiert. Je acht Studierende von deutschen und französischen künstlerischen wie wissenschaftlichen Hochschulen arbeiteten über vier Monate hinweg in gemeinsamen Workshops u.a. an einer Präzisierung eigener Begriffe und Konzepte, untersuchten künstlerische Arbeitsweisen und entwickelten Kriterien und Instrumente zum Verständnis transdisziplinärer darstellender Kunst im zeitgenössischen Kontext.

Cover Transfabrik

Auch ich wurde mit meinem Eintages-Workshop On Looking / Onlooking eingeladen, um Modelle von gemeinsamem Story-Telling zu erproben und einen fiktionalen Plot zu erarbeiten, in welchem besonders die Figurenentwicklung im Vordergrund stand. Dabei fußten die Instrumente der Geschichtenfindung ausschließlich auf Erzähl- und Spiel-Improvisationen, in welchen die TeilnehmerInnen die Handlungen und Bewegungen der Protagonisten imaginierten und im Moment der Visualisierung auch ausführten. Die Figuren- und Plotentwicklung wurde durch die in der Gruppe aufgeführte Verkörperung nicht nur direkt und unmittelbar erfahren, sie wurde auch von allen zur gleichen Zeit geteilt und gemeinsam hervorgebracht.

28. April 2013 in den Uferstudios, Berlin

VOR DEM WORKSHOP
Auweia, die deutsch-französische Freundschaft. Ohne diese wäre der Elysée-Vertrag nicht zustande gekommen. Ohne diesen Vertrag hätte man zum 50. Geburtstag auch kein binationales Kulturprogramm veranstaltet. Und damit auch kein Theaterfestival in Berlin. Und auch keine Schwimmbad-Installation im HAU, bei der ich mir böse die Ferse aufgeschlagen habe. Ich geb’s ja schon zu: wegen meiner eigenen Dummheit. Ich springe ins mit Plastikbällen gefüllte Becken und komme unglücklich auf meiner linken Ferse auf. Die nun höllisch weh tut, verdammt nochmal. Ich humple mehr schlecht als recht nach Hause, zieh mein Bein die vier Etagen zu meiner Wohnung hoch und leg mich schlafen. Nachts bekomme ich Angst, dass ich mir die Ferse gebrochen haben könnte. Nach ein paar Stunden halte ich es nicht länger aus, ich mühe mich die vier Treppen runter und schleppe mich in die Notaufnahme ins benachbarte Krankenhaus. Die elektronische Schiebetür tut sich auf, ich trete in eine andere Welt, die mich in den kommenden Stunden nicht mehr freigeben wird.

Ein Wachmann einer privaten Sicherheitsfirma steht vor mir. Er lächelt nicht, schaut auf meinen Fuß. Und sagt dann, freundlicher als man es seiner grimmigen Miene zutraut: „Die Anmeldung ist um die Ecke.“ Ich nicke stumm. Links befinden sich mehrere Stuhlreihen hintereinander, auf denen Menschen warten. Könnte auch ein Arbeitsamt sein. Rechts eine Glastür, die ein kleines verglastes Kabuff vom Wartebereich abgrenzt. Vor mir in der Schlange ein älterer Mann mit getönter Sonnenbrille. Ich stelle mich an. Den linken Fuß entlastend, alles Gewicht auf dem rechten Bein. Ich schaue mich um. Hinter mir eine Gruppe von Menschen, die offensichtlich nichts miteinander zu tun haben. Auf dem Boden, an ein brusthohes Mäuerchen gelehnt, hockt eine Frau und kritzelt in ihre Agenda. Warum sitzt sie nicht auf einem der Stühle im Wartebereich, die noch leer sind? Der Wachmann geht auf dem Korridor auf und ab. Überall an den ockergelben Wänden kleben Hinweisschilder in deutsch, englisch und türkisch. Nach einer halben Stunde bin ich an der Reihe, zwänge ich mich auf den Stuhl, der zu nah an dem Schiebefenster steht. Darin eine kleine Öffnung, durch die ich meine Krankenversichertenkarte zwänge. Der Mann auf der anderen Seite lacht mich, erstaunlicherweise, an. Ich lache verschwörerisch zurück, als ich ihm beschreibe, wie ich mir den Fuß verletzt habe. Haha, jaja, dumm von mir, klar. Er zwinkert mir zu. „Stellen Sie sich auf anderthalb Stunden ein und wenn’s dann kürzer ist, freuen sie sich.“ Wow. Ein höflicher Mensch, der dem Patienten Hoffnung macht. Derart motiviert stehe ich auf, öffne optimistisch dem nach mir Wartenden die Tür und humple zu einem freien Stuhl im Wartebereich.

Mir gegenüber sitzt ein Anfang 20-jähriger mit Zauselbart, fettig gekämmten Haaren und einem dunkelblauen Basketballshirt. Er blickt stumpf auf seine Füße und hält sich seine linke Hand. Die ganze Hand, das seh sogar ich, ist angeschwollen, der kleine Finger, blau angelaufen, steht ein wenig ab. Er blickt auf und sucht mit leeren Augen seinen Begleiter, einen glatzköpfigen Mann Mitte 50 in einem ärmellosen T-Shirt über dem runden Bauch gespannt. An einem der Ohren hängt eine Freisprecheinrichtung, die er die ganze Zeit nicht abnehmen wird, obwohl er die Hände frei hätte zum Telefonieren. Er wendet seinen Kopf einem kleinen bebrillten Jungen zu und schaut auf dessen verbundene Hand. Der Junge weint, seine zwei Schwestern versuchen, ihn mit ein paar Albernheiten zu trösten. Was auch den dicken, großen Mann dazu veranlasst, dem Jungen Mut zu machen. Er habe sich selbst mal auf Arbeit mit der Säge den Daumen angesäbelt (er sagt: angesäbelt), sooo tief (er zeigt mit Daumen und Zeigefinger die Tiefe des Schnittes). Der Junge schaut ungläubig. Und dann bin ick (er sagt wirklich ‚ick’) ins Krankenhaus, der Doc (!) hat ihm das dann genäht, Sehnen und so, ditt janze Jewebe war ja auch rausjehangen. Die Frau rechts von mir steht nun auf, noch blasser als zuvor, und setzt sich außer Hörweite. Aber weeste, wenn de Jroßvater bist, dann ist das alles vergessen. Und was meenste, was de auf dem Schulhof am Montag erzählen kannst, de Meedels. Die blasse Frau steht nun auf, geht zum Fenster, reißt es auf, um sich Frischluft zu verschaffen. Sie nimmt ein paar tiefe Züge von der mit Verkehrslärm geschwängerten Luft und setzt sich wieder. Ohne das Fenster zu schließen. Kollektives, aber stummes Kopfschütteln. Es zieht wie in meiner Ferse: höllisch. Eine Frau neben mir lacht sarkastisch, reibt sich den Handrücken. Ein Mann in einem Ramones-T-Shirt legt sein Handy weg und schließt das Fenster wieder. Es wird wieder ruhig im Wartebereich. Jetzt kann man auch wieder verstehen, was aus dem Fernseher kommt, der über dem Getränkeautomaten angebracht ist. Auf dem Kinderkanal treten Sechstklässler in einer Quiz-Show gegeneinander an. „Wie lautet der häufigste Familienname in Deutschland: Schmidt, Müller, Fischer oder Meier?“ – „Herr Szy-man-czi-ko-v-sk-i oder so?“, murmelt ein Krankenpfleger in diesem Augenblick, als er im Wartebereich auftaucht, ein Krankenblatt in seiner Hand haltend. Niemand rührt sich. Der Pfleger ruft nun lauter. Ein Mann steht auf und wiederholt im Vorbeihumpeln seinen Namen, wie er richtig ausgesprochen wird. Beide verschwinden hinter einer großen Milchglastür, die unsichtbar und hydraulisch ins Schloss gezogen wird. Beim Aufatmen fällt dem dicken Mann fast die Freisprecheinrichtung aus dem Gesicht. Na endlich jeht da was voran.

Aber nix geht voran. Wir sitzen und starren auf den Boden, halten unsere Handgelenke, schlagen unsere Beine übereinander und schauen immer wieder der großen Uhr bei der Verrichtung ihrer sekundengenauen Arbeit zu. Wenn doch auch auf die hydraulische Tür ähnlich Verlass wäre wie auf die Unruh des Uhrwerks. Aber die trübe Tür folgt ihren eigenen, undurchschaubaren Bewegungsgesetzen. Und so sitzen wir vor ihrem eigentümlichen Gesetz, jeder mit seinem blutenden, gerissenen, geschwollenen Körperteil, eine Gemeinschaft der Wartenden, die sich akzidentiell zusammengeführt sieht in einer Welt, die nur deshalb ist, weil der Unfall sie hat entstehen lassen. Gemeinsames Warten nun bringt Eigentümliches hervor. Es besondert und nivelliert gleichermaßen. Es macht unempfindlich und schärft doch die Wahrnehmung. Zunächst sieht man Schmerzen in jedem Stöhnen, Ballen, Grimassieren des anderen. Die Körper ächzen, stöhnen, krümmen sich unter dem Druck des Leidens; sie drücken dieses nicht aus, sondern zeigen es unmittelbar. Mit der Zeit aber scheint sich der Körperausdruck abzutrennen von der den Körper im Besitz haltenden Schmerzensursache. Das stöhnende Aufseufzen, das Grimassieren bei einer falschen Bewegung, das Ballen der Hand scheint nicht länger unmittelbares Ventil des Schmerzes zu sein; die Bewegungen scheinen den Schmerz viel eher zu repräsentieren. Als sei die Unmittelbarkeit des Leidensausdrucks der Mittelbarkeit der Darstellung durch den Körper gewichen, als würde der Körper den Schmerz per-formen statt von ihm perforiert zu sein. Als sei der Ausdruck bereits inkorporiertes Verhalten und nicht etwa Protokoll temporären Aushaltens. Die besondere Handhaltung, der spezifische knöchelentlastende Gang, der spezielle grimassierende Blick – sie erscheinen dadurch als Charakterisierungen, als Eigenschaften von Figuren: die blutende Hand bekommt etwas Martialisches, der krümmende Bauch etwas Unterwürfiges, dem hinkenden Mann eignet etwas Schurkisches. Das humpelnde Auftreten wirkt wie ein Auftritt; das um die gebrochenen Finger gewickelte Gestell wirkt gestellt; die eingenommenen Positionen wirken wie ein Dispositiv für dieses Schau-Spiel.

Denn nun muss der Patient darauf achtgeben, dass er seine Rolle gut spielt. Er muss nicht nur aufpassen, dass er das rechte Maß für seinen Leidensausdruck findet (zu viel Ausdruck käme einer Übertreibung und damit einer unglaubwürdigen Stilisierung gleich, zu wenig Ausdruck würde die Notwendigkeit seines Hierseins in Frage stellen), er muss vor allem dafür sorgen können, dass die besonderen, durch den Unfall hervorgerufenen Ausdruckshaltungen, die er einnimmt, ihm nicht als sein gewöhnliches Verhalten, als die Person, die er IST, attestiert werden. Er muss also in der Lage sein zu trennen zwischen dem, was der Unfall aus seinem Körper gemacht hat, ohne die Darstellung der spezifischen Verletzung zu über- oder untertreiben, und dem, was sein Körper aus dem Unfall macht, wie er ihn interpretiert, ohne den spezifischen sozialen Darstellungscode zu verletzen, der in diesem Kontext gesetzt ist. Er muss also auf eine Weise ernsthaft spielen, indem er sich bewusst wird, dass er spielt (seine Spielweise ist ernst im Sinne von seriös), dass er spielt (dieses Spiel muss er ernst und damit wichtig nehmen) und dass er spielt, was ihm in diesem Kontext eine gewisse Ernsthaftigkeit, Dringlichkeit verschafft.

Alles andere sind Zwischenfälle der sozialen Darstellung, wie jener sich ereignende Zwischenfall eines etwa 35-jähriger Mann, der zunächst in die Notaufnahme stürmt, aber plötzlich im Eingangsbereich stehen bleibt und den Wachmann anschreit. Er würde hier vergiftet werden. „Das gibt’s doch nicht, dass das niemand sieht. Die vergiften mich hier. Unglaublich“, schüttelt er den Kopf. Er schreit immer wieder den Wachmann an, kommt ihm ganz nahe. „Versteht denn keiner, was hier mit mir gemacht wird? Unglaublich!“, wiederholt er immer wieder. Seine Schreie wechseln sich mit plötzlicher Stille ab, immer wieder bricht er aus, bricht er ab. Er geht umher, fasst sich an den Kopf. Die anderen Patienten im Warteraum haben sich längst von ihren Sitzen erhoben und recken ihre Köpfe. Sie lachen, amüsieren sich über den Mann. Es ist ihnen nämlich nicht klar, ob der Mann nun verrückt spielt oder ob er verrückt ist. Man scheint diesen Mann nicht ernst nehmen zu können. Wenn er verrückt spielt, ist die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gegeben (er übertreibt maßlos und wird daher nicht ernst genommen werden), wenn er tatsächlich verrückt ist, würde sein Verhalten als Normal-Fall betrachtet, was in diesem Kontext nicht als Not-Fall durchgehen würde. Entsprechend unernst, unwichtig wird seine Situation eingeschätzt. Er erscheint lediglich als (willkommene, weil erheiternde) Störung im Ablauf des Patiententhea… Die hydraulische Tür öffnet sich. Der nämliche Pfleger ruft meinen Namen. Ich folge ihm in den Röntgenraum, lege meine Fuß unter den Röntgenapparat.

Die Aufnahmen hängen nun im Arztzimmer. Der Arzt betrachtet sie sich genau und runzelt dabei die Stirn. Er schaut mich an und sagt: „…

PS im Pool_1
Videostill by Judith Brückmann