Ein Ohne ohne Ohne (2005)

Vortrag am Tanzquartier Wien über das Ethisch-Ästhetische der Geste

Agambens Noten zur Geste – Das Ethische

„Was ist die Geste?“, fragt Giorgio Agamben zu Beginn des 4. Absatzes in seinen „Noten zur Geste“. Es ist die Frage des Philosophen, der sich Gewissheit über die Welt verschaffen will, der qua seiner Disziplin Phänomene, Erscheinungen, Dinge begrifflich bezwingen möchte. Sie trifft sich mit der Fragestellung dieser Vortragsreihe zur „Un/Lesbarkeit von Gesten“ hier am Tanzquartier (2005). Doch während der getitelte Schrägstrich auf den prekären, unsicheren Status eines derzeit virulenten Sujets des zeitgenössischen Theater abhebt, trägt Geste bei Agamben den bestimmten Artikel der bereits vorhandenen philosophischen Kategorie. Er sucht eine haltbare Definition, ein De-Finieren, ein begriffliches Eingrenzen und damit Endlichmachen eines wuchernden Phänomens, das am Ende rechts dem Ist-Gleich-Zeichen zu finden sein wird. Was ist die Geste in „Noten zur Geste“?

In zunächst historischer Rückschau konstatiert Agamben, dass das abendländische Bürgertum im 19. Jahrhundert die Kontrolle über seine Gesten verloren habe. Die gestischen Auffälligkeiten des unbeherrschten körperlichen Tic der ‚Koprolalie’, des Sprachausfalls der Echolalie, wie sie Gilles de la Tourette in seinen klinischen Untersuchungen registriert hat, seien der unauffällig gewordene Normalfall geworden. Im Kino, der kulturtechnischen Erfindung Ende des 19. Jahrhunderts, versuche daher die Gesellschaft, „sich das Verlorene wieder anzueignen.“ Tourette hatte eine Versuchsanordnung gewählt, die auf bemerkenswerte Weise die Bewegungschronometrien von Muybridge oder Marais vorwegnahm. Das Kino, welches in seinen Lumiere’schen Anfängen die Bewegungen zu einem laufenden Bild zusammensetzt, trägt nach Agamben noch immer die Spuren einer nicht mehr aufs Klinische beschränkbaren Untersuchung des Tics in sich, es ist selbst auch die Visualisierung dieses Tics, der Ataxie. Damit registriert der Cinematograph gleichermaßen den Verlust der Geste und schreibt ihn in das Kino ein. Das andere große Projekt der klassischen Moderne, Aby Warburgs Mnemosyne-Projekt, das sich der Erfassung und Beschreibung Gesten der abendländischen Menschheit widmete, sieht Agamben vor diesem Hintergrund daher als „Einzelbilder eines Filmes“. Die Bestandsaufnahme der Geste im bewegten Bild sei immer mit dem Wissen um deren Verlust gekennzeichnet, weil die gezeigten Gesten in den Bildern aktualisiert und gleichzeitig historisiert werden. Duncans Tanz, den Agamben als ein weiteres Beispiel, neben dem Roman, anführt, sei der letzte Versuch, die Geste, die der Menschheit zu entgleiten drohte, zu evozieren, ein letztes Aufbäumen, gestisch zu sein.

Die Geste lässt sich demnach nur unter der Antinomie ihrer Auslöschung in der Verdinglichung zum Bild wie auch deren dynamischen Hervorbringung verstehen. Kino ist nach Agamben nicht Bild, sondern Geste. Die Geste ist immer in Bewegung, sowohl materiell als Kino als auch mental in jener Oszillation, die sich bei Warburg zwischen Erinnerung und dem Erinnerten schiebt. Daher kann Agamben festhalten, dass das Kino die Bilder in die Heimat der Geste zurück führt.

Halten wir einen Augenblick inne. Bislang firmiert die Geste bei Agamben als Körperbewegung (die Tourettesche Untersuchung des körperlichen Lapsus als Tic, Duncans Tanz) wie auch als Bewegung des Bildes (Agamben rekurriert an einer Stelle auf Deleuze Zeit-Bild-Buch und die Anfänge des Kinos). Gleichzeitig ist die Geste von einem Verlust ihrer Kontrolle gekennzeichnet, welche im Medium des Kinos schmerzlich vor Augen geführt wird, jedoch dort nur durch die cinemetografische Medialität präsentiert werden kann. Die Geste kann damit nur im Moment ihrer Darbietung als verloren gezeigt werden. Ganz im Sinne Deleuze, der über das bewegte Bild schreibt, es sei „eine plastische Masse, asignifizierendes und asyntaktisches Material, das nicht linguistisch geformt ist,“ so Deleuze, und dieses damit abseits seiner semantischen Deutbarkeit betrachtet. Das Kino-Bild ist vielmehr  signaletisches Material, welches damit Medium, Mittel der Geste werden kann: Es transportiert damit das Gestische im Bild.

Nun beschäftigt sich Agamben jedoch nicht mit ästhetischen Fragen des Bildes und des Körpers. Das Kino interessiert ihn weniger als Bild- oder Wahrnehmungsmaschine, sondern eher als Container für die Geste. Die Frage, was eine Geste ist, steht vielmehr unter der Verfügung des Ethischen, „und nicht einfach der der Ästhetik“, wie er ausdrücklich schreibt. Um das ethische Potenzial der Geste zu zeigen, greift er auf Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik’ zurück. Hierin unterscheidet Aristoteles zwischen ‚facere’ als Hervorbringen bzw. Machen und ‚agere’ als Ausführen bzw. Handeln. Trennt sich nach Aristoteles das Hervorbringen der Poesis (facere) als Hervorbringung von dem eigenen Zweck, da es zielgerichtet ist, so hat das ethisch gute Handeln (agere) der Praxis in sich seinen eigenen Zweck, ohne Mittel zu sein. Die Geste nun, konzediert Agamben, etymologisch von ‚gerere’ (tragen) herstammend, gehört weder der einen noch der anderen Tätigkeit an. Sie bricht vielmehr „die falsche Alternative zwischen Zwecken und Mitteln […] auf und stellt Mittel vor, die sich als solche dem Bereich der Mittelbarkeit entziehen, ohne dadurch zu Zwecken zu werden.“

Ganz so einfach lässt sich das Ethische jedoch doch nicht vom Ästhetischen zu trennen. Denn wieder versucht Agamben seine These zur Geste mit einem Beispiel aus dem Tanz zu illustrieren: „Wenn der Tanz Geste ist, dann indes nur, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbarmachen eines Mittels als solchem”, sagt Agamben.

Verstehen wir richtig. In der Überschrift hat Agamben darauf hingewiesen, dass die cinematografische Geste eher einer ethischen als einer ästhetischen Kategorie entspricht. Er konnte dies aber nur unter Rekurs auf zwei Texte aus der klassischen Antike, welche die Geste als ethisch Drittes offen lassen (Aristoteles), das Agamben dann schlussfolgernd einfügt. Um nun aber die Richtigkeit seiner Unterscheidung von Zweck und Mittel aufzeigen zu können, verweist er auf Tanz, den er als Metapher für seine Argumentation aufruft, aber gleichzeitig dessen ästhetische Qualität unterschlägt, wenn nicht negiert. (Tanz in seiner ästhetischen Qualität, so Agamben, sei Bewegung, die ihren Zweck in sich selbst habe.) Lässt sich in diesem Projekt das ethische Potenzial der Geste nun von ihrer ästhetischen Anschauung ablösen?

Noch einmal: Die Darbietung einer Mittelbarkeit macht das Mittel als solches sichtbar. Die Geste ist demnach gleichzeitig das Mittel dieser Mittelbarkeit, weil sie ihr eigenes In-einem-Medium-Sein zeigt, ohne dabei jedoch nur Selbst-Zweck zu sein. Wäre sie Selbst-Zweck, dann wäre die Geste eben keine Geste, sondern der Kategorie der Handlung zuzuschlagen, wenn wir noch einmal den von Agamben angeführten Kronzeugen Aristoteles aufnehmen. Wäre sie umgekehrt ein Mittel, um den Körper von einem Punkt zum anderen zu befördern, hätte sie ein Ziel, einen Zweck, womit sie dann der Kategorie des Machens angehörte. „So lebt in der Geste die Sphäre nicht eines Zwecks in sich, sondern die einer reinen Mittelbarkeit ohne Zweck, die sich […] mitteilt.“

Die Körperbewegung des Tanzes oder die Bildbewegung des Kinos ist demnach nur dann eine Geste, wenn sie eine „reine Mittelbarkeit ohne Zweck“ ist, die sich mitteilt. Das, was die Geste also sagt, ist zwar eine Mitteilung, aber nur die Mitteilung der Mitteilbarkeit. Sie sagt damit nichts, sie sagt aber gleichermaßen auch nicht nichts. Die Geste ist damit nur potenziell gesprächig, mitteilbar, das, was sie aber aussagt, ist die Aussage in ihrer Medialität selbst. Sie drückt etwas aus, indem sie nichts ausdrückt, weil sie nicht Teil der Ausdruckssetzung ist.

Wo aber kommt diese Wortkombination der „reinen Mittelbarkeit“ her? Warum kann die Mittelbarkeit rein genannt werden? Man muss Agambens Zusammenfügung einer ‚reinen Mittelbarkeit’ mit Walter Benjamins Überlegungen zur ‚reinen Gewalt’ engführen, um dahinter zu kommen. Erst dann kann man die Geste als eine unsetzbare Ent-Setzung charakterisieren, deren Charakter darin besteht, die Geste jenseits der Mitteilung der Sprache, ihres Verlusts und Untauglichkeit zu begreifen. Die Geste ist dann jenseits der Position und Opposition von Sprache ein Afformativ, „ohne darin [in der Sprache] ihren Ausdruck, ihre Repräsentation oder ihre Darstellung finden zu können.“ (Vgl. Hamacher, Afformativ, Streik) Die reine Mitteilbarkeit der Geste siedelt demnach außerhalb der sprachlichen Mitteilung, sie geht vielmehr dieser als Vorgabe jeder Setzung voraus. Sie ist das Ohne der Setzung.

Weil er von Benjamin das entscheidende, allerdings verschwiegene Stichwort bezieht, kann Agamben die Geste als Ethisches denken, das außerhalb der ästhetischen Setzungen residiert. Unter dem Segel des Ethischen kann er den von Benjamin in ‚Kritik der Gewalt’ vorgezeichneten Denkkurs zur Problematik der Repräsentation nehmen, ohne sich dabei von ästhetischen Diskursen aufhalten zu lassen. Das Entsetzen über den Verlust der Geste, wie sie von Agamben gleich in der ersten Kapitelüberschrift überschrieben wird, ist damit tatsächlich eine Geste der Ent-Setzung, welche jegliche weitere Setzungen der Repräsentation und Darstellungsproblematik grundiert. Daher lässt sich die Geste nie dort verorten, wo sie in Erscheinung tritt, da sie in ihrem schmerzlichen Verlust immer nur gezeigt werden kann; sie ist nicht repräsentationsfähig. Sie ist das Ohne der Repräsentation.

Bringt nach Agamben nur die ethische Betrachtung der Geste genau diese ans Licht, so kann die ästhetische Anschauung der Geste für Agamben notwendigerweise jedoch nur opak, undurchsichtig erscheinen. Dabei führt „die dunkle Kant’sche Wendung Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, wie Agamben den Grundsatz des Schönen aus Kants Analytik diskreditiert, genau auf jene Spur, die Agamben in seinen Noten zur Geste verfolgt.

Derridas Fuß-Noten zur Geste – Das Ästhetische der Geste

Denn es scheint, dass es sich bei dem die beiden Begriffe Zweckmäßigkeit/Zweck verbindenden Ohne um genau die gleiche präpositionale Wertigkeit handelt. Die gesamte ästhetische Debatte seit Kant dreht sich um eine merkwürdige Abwesenheit von etwas, das sich nicht bestimmen lässt. Sie wird von einem Ohne bestimmt, welches gleichwohl nicht zu fehlen scheint; ein Verlust, ohne einer zu sein. Agambens Ethik der Geste scheint sich aus dem gleichen epistemischen Feld zu speisen, das auch kunsttheoretische Überlegungen kennzeichnet, wie an einer der wirkungsmächtigsten Ästhetiken zu zeigen sein wird.

Kants ‚Kritik der Urteilskraft’ gilt in seiner Einflussnahme noch immer als epistemische Grundierung der abendländischen Kunsttheorie. In seiner zwischen Vernunft und Verstand angesiedelten dritten Untersuchung, der des ästhetischen Vermögens, nimmt Kant bekannt-lich eine Trennung zwischen dem Angenehmen, dem Guten und dem Schönen vor, um seine Theorie des Geschmacksurteils zu schreiben. Kant bestimmt das Angenehme als das, was den Sinnen in der Empfindung gefällt. Es hat weder Zweck noch Zweckmäßigkeit, weil es nur angenehm den Empfindungen schmeichelt. Gut wiederum ist, was vermittels der Vernunft, durch den bloßen Begriff, gefällt. Es hat einen Zweck, einen Wert in sich. Das Schöne nun ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt. Es ist ein Geschmacksurteil, das in einer gewissen Beziehung zur Zweckmäßigkeit steht und der Gegenstand eines uninteressierten Wohlgefallens. Kant bestimmt: „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“ (Kant, Analytik des Schönen)  Genau an dieser Stelle, und darauf macht Derrida in seinem Buch ‚Die Wahrheit in der Malerei’ aufmerksam, fügt Kant nun eine wichtige Fußnote an: „Eine Blume aber, zum Beispiel einer Tulpe, wird für schön gehalten, weil eine gewisse Zweckmäßigkeit, die so, wie wir sie beurteilen, auf gar keinen Zweck bezogen wird, in ihrer Wahrnehmung angetroffen wird.“

Für Kant ist nun das ideal Schöne das Naturschöne, da die Natur vollkommen ist. So kann Kunst auch immer nur die Kunst des Genies sein, da das Genie direkt von der Natur kommt. Die Tulpe, von der er nun spricht, kann als schön erfahren, ästhetisch wahrgenommen werden, weil sie zweckmäßig zu sein scheint, da alles, was sie an sich hat, einem Zweck zu gehorchen scheint, und dennoch, obwohl sie gerichtet zu sein scheint, trägt sie kein Ende außerhalb ihrer selbst. Demnach bestimmt die Zweckmäßigkeit die Schönheit, kann es nichts Schönes geben ohne Zweckmäßigkeit, sie ist jedoch zu Ende, wenn ein Zweck diese Schönheit bestimmen sollte (vgl. Derrida)

Diese Bestimmung gilt ex negativo auch für Gegenstände, Dinge, welche anscheinend zu nichts nutze sind. Kant zieht hierfür ein merkwürdiges Beispiel heran. In einem alten Grabhügel, so Kant, wird ein Gerät entdeckt, dessen Verwendung man nicht kennt. Ein Loch in seiner Mitte deutet auf eine Zweckmäßigkeit hin, ohne dass man jedoch den Zweck des Geräts dadurch erkennen würde. Dieses Gerät nun als schön zu bezeichnen, verweigert Kant jedoch. Denn dem Ding haftet noch immer ein Zweck an, es ist noch „nicht ausreichend von seinem Ziel abgetrennt“ (Derrida, 110). Dieses Loch in der Mitte ist kein Mangel, sondern ein ausfüllbares Etwas. „Solange ein Anhaften bestehen bleibt, sei es nun virtuell oder symbolisch, solange es keinen reinen Einschnitt gibt, gibt es keine Schönheit, wenigstens keine reine Schönheit,“  schreibt Derrida.

Dieser reine Einschnitt ist es, der das Schöne bestimmt. Es ist der Schnitt der Blume, dieser Tulpe als doppelter Schnittblume, wenn man so will, die diesen Einschnitt des Schönen in sich trägt. Die Tulpe ist von einem Zweck durch einen reinen Schnitt abgeschnitten. Dieses Ohne des reinen Einschnitts verleiht dem Schönen erst das Schöne. Die Kantsche Definition des ästhetisch Schönen als Zweckmäßigkeit ohne Zweck lässt sich noch besser verdeutlichen, wenn man das Derridasche Original daneben legt: Das Ohne des reinen Einschnitts, „Le sans de la coupure pure“ spielt mit der dreifachen Signifikation von ‚sans’ als ohne, ‚sang’ als Blut und schließlich, erhellend, mit ‚sens’ als Sinn. Dieser Schnitt trennt die Zweckmäßigkeit vom Zweck, mit diesem reinen Schnitt erst bekommt das Schöne seinen Sinn. „Es ist die Zweckmäßigkeit-ohne-Zweck, die schön genannt wird […]. Folglich ist es das ohne, was für die Schönheit zählt, und weder die Zweckmäßigkeit noch der Zweck, weder das Ziel, das mangelt, noch der Mangel an Ziel, sondern die Umrandung im ohne des reinen Einschnitts, das ohne der Zweckmäßigkeit-ohne-Zweck.“ (Derrida)

Dieses Ohne ist jedoch kein Mangel an etwas, sondern ein Schnitt des Ästhetischen, der nicht geschlossen werden kann. Dieses Ohne kann nicht gewusst werden; wäre dies möglich, könnte es begrifflich geschlossen werden, würde es sich nicht länger um das Schöne handeln: „Über diese Spur des ohne in der Tulpe hat das Wissen nichts zu sagen,“  schreibt Derrida. Das Ohne ist die Spur, nicht aber der Anwesenheit oder der Abwesenheit eines Ziels, sondern die reine Spur, mit der allein das Schöne schön genannt werden kann. Das ohne ist nicht sichtbar, und dennoch ist es da. Als Ohne-da haftet es mangellos dem Schönen an, ohne dass es da sichtbar wäre. Die Schönheit „geht nur mit diesem ohne da“, wie Derrida sagt, diese Spur des Ohne-da ist der Mangel des Zweckes, der sich als Zuschuss des Ästhetischen zeigt; dieses Ohne zeigt die Geste des Ästhetischen.

Schluss-Noten: Thesen des Ohne

Kommen wir nun auf die Agambensche Geste zurück. Der merkwürdige Status der Geste liegt darin, dass sie ihre eigene Bedingung der Mitteilung mitzuteilen in der Lage ist, sie spricht über sich, ohne sich als Zweck zu setzen. Vielmehr macht ihr entsetzender Charakter das Mittel, mit dem sie spricht, sichtbar und lässt ihre Medialität aufscheinen. Das, was sie ausdrückt, kann sie nur in ihrem Medium, dieses Medium sagt aber nichts außerhalb sich selbst, darüber hinaus. Das kann die Geste aber nur, wenn sie ihr eigenes Mittel-Sein unterbricht (vgl. 61), sich dieses entzieht und diese Unterbrechung einen Riss legt zwischen ihre Mitteilung und ihrer Mitteilbarkeit. Dieser Schnitt ist notwendig (noch einmal: das coupure pure), um gleichzeitig die Mitteilung mitzuteilen wie die Mitteilung der Mitteilbarkeit äußern zu können, um Mitteilung und Mitteilbarkeit gegenseitig aufschieben zu können.

Die Geste ereignet sich demnach nur dann, wenn sie ihre Setzung verweigert, was sie para-doxerweise nur durch die Setzung sichtbar machen kann. Sie bleibt damit immer außerhalb sich selbst, ohne sich, vermisst sich, ist ihr eigener Verlust. Im Moment ihres Zeigens zeigt sie sichtbar auf ihre Unsichtbarkeit. Sie wendet sich dunkel an das ästhetische ‚Ohne-Da’, wie Derrida ausgeführt hat, indem sie auf dieses hinzeigt, ohne selbst dort zu sein. Sie ist selbst das ‚Ohne-da’, das die Geste ins Licht setzt, um dann gleich wieder im dunkeln Ohne zu verschwinden. Ohne dieses Ohne, das kein Mangel ist, weil der Geste nichts fehlt, sondern ihr Verlust ein Plus ist, ist die Geste als Geste nicht wahrnehmbar.

Im Riss trifft sich das Ethische der Geste mit dem Ästhetischen des Ohne. Das Ent-Setzen der Repräsentation ist die Bedingung dafür, dass die Geste wahrnehmbar wird. Gleichzeitig kann die Geste diese Bedingung nur ästhetisch setzen, als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, um diese Ent-Setzung zwar nicht zu repräsentieren, aber sichtbar zu machen. Die Geste also ist die Äußerung ihrer Bedingung wie auch die Bedingung ihrer Äußerung selbst. Sie operiert damit an der Grenze zwischen Ästhetischem und Ethischem, zwischen ästhetischer Setzung und ethischer Entsetzung und markiert den Riss, die Scheidelinie, den Schnitt selbst, ohne diesen dabei aufzuführen: sie teilt durch sich die Grenze ihrer Kommunikation selbst mit.

Dieser Schnitt, dieses Ohne, der Riss teilt damit auch das Sichtbare vom Sagbaren. Denn über dieses Ohne, diesen Riss hat die Wissenschaft nichts zu sagen, wie Derrida ausgeführt hat. Dieses entzieht sich notwendigerweise der begrifflichen Setzung als ästhetisch Schönes wie auch als afformative Bedingung des Ethischen. Die Geste residiert außerhalb einer Sprache, ist aber dennoch nicht vorsprachlich. Vielmehr zeigt die Geste, dass sie nur über Sprache angenähert werden kann.

Als sichtbare Bedingung, unter welchen sich Fragen zur Übersetzung des Körpers in Sprache erst stellen können, zeigt sie auf, dass das Ohne von Wort-Sprache im Gestischen sehr wohl Diskurse zum Wuchern bringt. Sie stachelt geradezu zu Sprache an, welche versucht zu begreifen, ohne dass es dieser gelänge. Dadurch ist die Geste von Sprache ausgenommen, in ihren Zustand der Ausnahme jedoch wird sie von Sprache versetzt. In ihrer ethischen Ent-Setzung und ihrem ästhetischen Ohne stellt sie die Bedingung für Sprache, und stellt diese damit gleichermaßen in Frage, da sie sich nicht übersetzen lässt, da sich dieses Scheitern als ein Verlust von Sprache äußert. Die Geste ist der reine Zustand der Ausnahme von Sprache, deren Ausnahmezustand. Indem sie ihren Ausnahmezustand erklärt, setzt sie die Sprache außer Kraft, um ihr gleichwohl zur Sprache zu verhelfen. Als Grenze des Sagbaren teilt sie der Sprache die Grenzen deren eigener Mitteilbarkeit mit. Die Geste macht die Mittelbarkeit von Sprache gerade dadurch sichtbar, dass sie die sprachlichen Mittel an ihre Grenze(n) bringt. Aus diesem Grund ist die Geste nicht ohne Sprache zu denken. Sie ist ein Ohne-Sprache, deren Ohne ihr jedoch als ohne zugehört und zuhört.

Dieser Text wurde als Vortrag 2005 am Tanzquartier Wien gehalten.