Ein Dialog zur Produktion von Wissen über und im zeitgenössischen Tanz zwischen Peter Stamer und Franz Anton Cramer

Die (gekürzte) Mail-Korrespondenz zwischen Franz Anton Cramer und Peter Stamer beschäftigte sich über mehrere Wochen mit der Frage der Wissensproduktion im zeitgenössischen Tanz. Sie setzt zunächst an einem von Peter Stamer in den Dialog eingebrachten Thesenpapier an. In diesem beschreibt er einige Merkmale von Wissensproduktion im zeitgenössischen Tanz, die er an Stichworten festmacht wie Orts- und Körpergebundenheit von Wissen, der jeweils neu von den am Research beteiligten Personen zu verhandelnden Arbeitsweisen, der methodologischen Konzentration auf Fragen als nicht zielgebundenem Prozess, der gleichwertigen Horizontalität von allen im Erkenntnisprozess eingesetzten Praktiken (Diskurs, Körperarbeit, Medien etc.), der nicht messbaren Wissensproduktivität (Input-Output-Relation) und dem Wissenszufall (Serendipity) als Unkalkulierbarem.

Franz Anton Cramer: Danke für Dein eindrucksvolles Exposé (das meine ich ganz ernst), welches mich mit sanfter Gewalt zwingt, meinen Blick wieder in eine andere Richtung zu lenken, als es in den vergangenen Wochen möglich war. Wobei ich gleich sagen möchte, dass die Diskursfolie in der Wendung einer folie du discours mich besonders beeindruckt. Das Diskurrieren als ein Entlaufen und immer wieder Heimkehren, immer wieder Umkehren – die Reflexionsbeugungen gleichsam – zum Bekannten: das gibt ein schönes Ausgangstableau, in welches wir dann auch wieder eintreten, wenn wir die Welt umrundet haben. Ob’s gleich die Tür zum Paradies ist, muss offen bleiben. Wir umkreisen die Frage nach dem Wesenskern von Wissen, insofern es sich in (Zwischen-)Räumen bildet, ausbildet, einnistet und einschreibt, in die man zwar mit den Fängen der Sprache immer tiefer eindringt – eine Art mikroinvasive Wissensbildung -, aber in denen doch immer der Verdacht der Undurchschaubarkeit bleibt. Diese Undurchschaubarkeit wird bald gefeiert, bald gefürchtet, aber immer wahrgenommen, wenngleich bisweilen nur als Latenz, nicht als Produktives.

Mir gefällt die von Dir genannte „serendipity“, also die Abfallverwertung von Wissen und Diskurs, und damit einhergehend ein weiterer Unsicherheitsraum; vielleicht sollte man Wissen ohnehin als Unsicheres denken, weswegen die körperliche Konstituierung sich so leicht anbietet, feilbietet. Denn im Körperlichen, zumal im Tänzerischen, wird die Leichtigkeit gesetzt. Was wir sehen, macht uns an, daher können wir’s wissen. Du erinnerst Dich… . Bestimmte Forschungspraktiken sind eben im Tanz nicht erlaubt. Zerlegen kann man nur bis zu einem gewissen Tiefengrad die Parameter, nicht aber das Objekt. Erstens ist das ethisch bedenklich – man müsste ja den lebenden Körper zerstückeln -, zweitens ist es auch methodisch und kognitiv undenkbar, denn das, was man meint, existiert überhaupt nicht als Objekt oder Substanz. Bewegung ist nur die Erscheinungsweise von Materie, in der sie sich einem Wahrnehmungsapparat darbietet, der selbst nichts behalten kann. Bewegung ist dasjenige des Materiellen, was eben nicht ist.

Ohnehin sagt Diderot: Warum „betrachten“ wir nicht? Warum nehmen wir nicht anders wahr? Insofern könnte der Wissensbegriff auch dafür einstehen, dass eben nicht alles gewusst werden kann, oder jedenfalls nicht auf dieselbe Weise. Wenn aber der Wissensbegriff insgesamt problematisch, instabil und opak geworden ist, dann ist der Tanz mit seinem körperlichen Medium natürlich ein geeignetes Paradigma. Nur ist die Frage, ob die tänzerische Wissenskultur zur besseren Wahrnehmung des Tanzes in der Öffentlichkeit taugt.

Werden wir Wissensflüchtlinge, flüchten wir vor dem Gewissen, dem allzu Gewissen, und wagen eine andere Form der Einsicht ins Reden. „Kann man überhaupt von Wissen sprechen, das nicht-diskursiv vorliegt?“ Sprechen kann man davon sicherlich; aber kann man es auch denken, kann man es begründen? Gibt es nicht-diskursiv zuhandenes Wissen? Und was macht man damit, wenn man es nicht zurück-übersetzt? Ich glaube, es gibt die Leerräume des materiellen Wissens, in denen der Körper oder das Nicht-Sprachliche heimisch sind. Aber vielleicht sind sie eben dahin geflüchtet aus einer Welt der konzeptionellen Strangulierung. Boyan Manchev hat mir einen Satz aus seinem Manuskript über ,Transformability‘ geschenkt. Er lautet: „Therefore let us think of the body as a locus of singular experience, as a possibility for transformation, contact, and freedom. That’s why: dance.“ In unserem Fall: Freedom from discourse, aber nicht als nicht-diskursiver, sondern als imposed discourse. Freedom to find your own discourse. Especially if you don’t dance.

Peter Stamer: Gerade im Taumel noch der drei auslassenden Punkte wirken Deine Andeutungen fast schon obszön, weil dieses Wissen nur unterstellt werden kann, komplizenhaft verlängert in die Unendlichkeit dieser Insinuation, vertrauend auf ein Erfahrungswissen, das nur im Körper, damit in meinem Körper, zuhause sein kann, wie Boyan Manchev richtigerweise schreibt. Der Schleier Deiner drei Punkte („Du erinnerst Dich …“) enthüllt mehr als er verdecken könnte, dieses Mehr wird sichtbar, wenn Du das Lacan-Wort umdeutest in „Was wir sehen, macht uns an“. Dieses Mehr des ‚nous regarde‘, es schaut uns nicht an, es geht uns an, Mehr am Anderen, am ‚Du‘, das von diesem anderen Ort uns anspricht und das ‚ich‘ begehre. Dieser Körper ist unerreichbar, verschwindet in den drei Punkten der ‚lovers’ discourses‘, die sich, in einem Mischmasch aus französisch und italienisch, enthüllen ließen im ‚Io vers discours‘, wenn ich das ‚l‘ als großes ‚I‘ lese, also ‚ich zum Diskurs hin‘, auf dem Weg dorthin, hin- und her laufend, im Zimmer meiner Gefühle, wie es Barthes in seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe so hinreißend beschreibt.

Welcher Art ist dieses Wissen, um die Kurve zu unserem Thema nochmals einzuschlagen, das Volant meiner Rede herumreißend, ein flüchtiges, fliegendes Wohl an, hin zu einem Wissen, ‚io vers discours‘. Ich habe so Manches, Manchev, mehrere Male gelesen und nicht ganz verstanden. Bei Dir kristallisierte sich jedoch ein neuer Bewegungsbegriff heraus, wonach Bewegung als Erscheinungsweise einer Materie zu sehen ist, da sie sich dem Wahrnehmungsapparat sonst gar nicht anders ‚feilbieten‘ kann, Dein Zitat. Natürlich stelle ich an dieser Stelle die Frage, wie es sich dann mit dem ‚Wesenskern‘, von dem Du auch gesprochen hast, verhält, als könne es ein ‚Dahinter‘ dieser Bewegung geben, und wir treten auf jener Stelle, die wir beide zur Genüge breit getreten haben. Dass Tanz ein Stellvertreter ist für jenes, was nicht gewusst werden kann, dass Bewegung das ist, was eben nicht materiell ist und daher nicht eingeholt werden kann: Achilles und die Schildkröte.

Das mündet dann bei Dir in die sehr schöne Conclusio: „Also werden wir Wissensflüchtlinge, flüchten wir vor dem Gewissen, dem allzu Gewissen jedenfalls, und wagen eine andere Form der Einsicht ins Reden.“ Das ist wunderbar formuliert, forumliert, weil dieser Satz ein Forum bietet für den Versuch, nicht immer das zu sagen, was wir schon wissen. Keine Fragen zu stellen, die bereits im Moment ihrer Formulierung beantwortet sind, in welcher nur die Rhetorik der Inversion arbeitet, nicht aber die Offenheit der Antwort. Ein „ich weiß nicht“, das gewiss ist, nichts zu wissen, sondern dessen Gewissheit selbst bedroht ist. Es reicht nicht, emphatisch das Nicht-Wissen zu behaupten, das sich selbst als ‚eine Form‘ des Wissens gewiss ist, welche über die Hintertür nur wieder herein grüßt als nicht-diskursives Wissen, das „Guten Tag“ sagt im Körper, wie ihn so manche so gerne empfangen möchten. Das Empfangen, die Empfängnis, die Konzeption des Nicht-Wissens im Körper verhütet jedoch die Möglichkeit der Dummheit, ist kontrazeptisch, weil der Körper in diesem Denken immer schon mehr weiß als der Diskurs, er ist nicht prekär, sondern immer schon prä-diskursiv-wissend.

Du siehst, dass dies auch meine Frage tangiert, die Du richtig zitierst, jedoch anders auslegst als ich. „Kann man überhaupt von Wissen sprechen, das nicht-diskursiv vorliegt?“ implizierte nicht ein nicht-diskursives Wissen, über welches gesprochen wird, über welches Diskurse produziert werden, sondern fragt, ob man überhaupt von nicht-diskursivem Wissen sprechen kann, ob es Wissen außerhalb des Diskursiven gibt. Es scheint keine Frage mehr für Dich zu sein, denn Du ziehst für Dein Denken ‚materiell‘ und ‚Wissen‘ zu „materiellem Wissen“ zusammen und sagst, dass es das gibt, sofern materiell immer diskursiv ausschließt. In welcher Weise läge dieses Wissen vor, wenn nicht nur im Körper verborgen?

Um anzufügen: in der Singularität des Körpers, wie Manchev in seinem Geschenk an Dich denkt. Dieser Gedanke, diesem Danke an Dich, dem so netten gift of friendship an Dich schlägt im Strom seines Gedankens an diese Singularität eine allerdings etwas große Volte, eine Kapriole: Tanz ist seine Antwort des Potenziellen. Er paraphrasiert damit Alain Badious ‚In-Ästhetik‘, die dem „Tanz“ ein natives Denken zufügt (ich meine: zufügen), das vor dem Wissen und vor dem Namen ist. Ich würde gerne einen (Tanz-)Schritt zurückgehen und nach den Bedingungen fragen, die diesen Kurzschluss von Tanz und Denken bereits schon gefasst haben – bei Manchev wie auch bei Badiou. Die Herausforderung an das Denken heißt nicht Körper, sie heißt Singularität, dieses Schlagwort aus der französischen Denkhemisphäre, die eine andere Hirnhälfte anspricht als jene, mit welcher unsere Akademien gewohnt sind zu denken.

Ich habe folgenden Satz des gleichen Badiou entdeckt: „Wir brauchen im Grunde keine Philosophie von der Struktur der Dinge. Wir brauchen eine Philosophie, die offen ist für die irreduzible Singularität dessen, was geschieht, eine Philosophie, die sich aus der Überraschung des Unerwarteten speist. Eine solche Philosophie wäre eine Philosophie des Ereignisses.“ Was wären die Bedingungen eben jener Philosophie, die hier manifest gefordert wird. Offen für die irreduzible Singularität sein, die es schafft, der ‚folie du discours‘ ein ‚du même‘ hinzuzusetzen. Vom Selbst, das sich gleicht, vom Gleichen, das selbst ist, das Selbst ist, vom Gleichen, das auch ohne Anderes ist, ohne auf die Differenz reduzierbar zu sein. Io vers dicours, ich zum Diskurs hin, ein Nancy’sches ‚vers‘, die Richtung aufnehmend ‚du même‘: lovers’ discourses. Dieses Denken des Ereignisses hat jenen Barthes des Propheten, an welchem ich anfangs bereits gezogen habe. Dieses Ereignis des Singulären zum anderen Singulären wäre die Distanz zwischen beiden, und wäre nur mit Prä-Fix, nicht aber prä-fixiert im Körper, als Dis-Tanz zu denken.

Franz Anton Cramer: Welch eine Koinzidenz: Von meinem letzten Berlin-Besuch brachte ich „lovers’ discourses“ mit in meine Pariser Klausur. Die italianisierende Lesart veranlasst mich zu einem kleinen philologischen Hinweis: „lo vers discourse“ liest sich ja eigentlich nicht als Ich zum Diskurs, sondern Es (Lo). Und wenn man das Neuhebräische hinzuzieht, sogar Nein zum Diskurs. Glaubst Du, dass diese freudianische Note nicht sogar besser passt? Denn die Rede über und die Rede in und die Rede von, sind sie nicht immer auch und vor allem von Etwas gelenkt, dessen wir uns nur in Umrissen und annähernd „bewusst“ werden können, und dessen eigentlicher Antrieb immer in Teilen verborgen bleibt?

Du sprichst über die mangelnde Gewissheit, ob man überhaupt ein Nicht-Wissen denken und formulieren, ob man es fassen und damit umgehen kann. Die Frage ist essenziell, aber andererseits muss sie nicht unbedingt zum Drama führen, zum Wissens- oder Erkenntnisdrama. Zwei Autoren, mit denen ich mich letzthin eingehender beschäftigt habe, fallen mir dazu ein: Diderot und Plessner. Denn in den schon erwähnten Eléments de Physiologie gibt sich Diderot ganz pragmatisch und bekennt wiederholt, dass NATÜRLICH die Dinge einen wissbaren Zusammenhang aufweisen, aber dass ebenso NATÜRLICH wir ihn erst nach und nach erfassen können. Anstatt aber zu spekulieren und fortwährend höhere Mächte zu beschwören, soll man sich einfach an diejenigen Fakten halten, die gesichert und schon beschreibbar sind. Der Rest kommt dann von selbst. Es ist geradezu eine heitere Variante des provisorischen, wenngleich konstitutiven Nichtwissens als eines Noch-Nicht-Wissens. Damit ist beides sichergestellt: die Leerstellen sind zugegeben, aber die Gewissheit, sie eines Tages auffüllen zu können, ist beibehalten. Das geschieht ganz elegant, ganz ohne Spreizung.

Während Plessner, mit Blick auf den Körper und die Frage, wie sich überhaupt „die geistige Dimension im Physischen zeigen kann“, ein riesiges Problem sieht und sich eindrucksvoll bemüht, diese Doppelnatur des Lebendigen (sichtbar/unsichtbar, Peripherie/Zentrum, Innerlichkeit/Äußerlichkeit) als sich wechselseitig bedingende Wesenseigenschaften zu erklären. Es geht ihm nicht um Auflösung von (Erfahrungs-)Differenzen aus verschiedenen Seinssphären, sondern um eine Vermittlung zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, dem Bleibenden und dem Wandelbaren. Der Körper ist das Medium von Veränderung und Prozess und zugleich ist er das Medium der Identität und Stetigkeit. Daraus leitet er eine Erkenntnisweise ab, die die naturwissenschaftliche Methodik verwendet, um sie an die Grenze zu führen und ein anderes „Reich“ zu erschließen, aufzuschließen, vielleicht könnte man es das Reich der Gestalt nennen. In und an der Gestalt nämlich begegnen sich die Welten oder jedenfalls die Erscheinungsweisen als Identität und Alterität. Die naturwissenschaftliche Methode allein kann diese Doppelnatur niemals erfassen, weil sie einen wesentlichen Bereich ausblendet. Umgekehrt kann die Philosophie mit ihren abstrakten Operationen die physische Konkretheit nicht beschreiben. Erst indem die Leerstellen, Ausblendungen, Einschnitte und Abschnürungen der jeweiligen Methodiken in Übereinstimmung gebracht worden sind, scheint die „Ganzheit“ als der wandelbare Prozess des Gleichen auf. Und zwar am, im Körper. Als Körper. Das ist eine Form der Wissensbeschreibung, die weit über die ästhetisch eingegrenzten Tanzdiskurse, insbesondere seiner Zeit (1928) hinausgeht. Damit formulieren beide in gewisser Hinsicht ein Bewusstsein des Mangels, aber auch ein Bewusstsein der produktiven Werte dieses Mangels; denn er kann sich ja in einer neue Synthese steigern, er kann eine neue Anschauung eröffnen, eine, die eben produktiver ist.

Das mit dem nicht-diskursiven Wissen bleibt ein offenes Problem. Ich glaube, es gibt es, als eine Art Vorsprachliches. Aber ob es jemals bewusst gemacht, benutzt, eingesetzt werden kann, ohne einmal durch die Filter der Diskurse gegangen zu sein? Ich kann es natürlich nicht benennen. Ist das vielleicht eine Glaubensfrage? Muss man an ein solches Wissen – an die Intuition? – glauben, um sie zu erleben und mit ihr zu arbeiten? In den meisten Fällen wird das Nicht-Diskursive als Ersatzformel verwendet, um mangelnde Intensität oder fehlende Stringenz oder ausbleibende Rhetorik zu bemänteln. Aber ob Nichtwissen und Körper sozusagen eine arrangierte Ehe eingehen müssen, dazu fällt mir zu dieser Stunde keine Meinung ein.

Das mit dem materiellen Wissen ist schwierig, zugegeben. Ich denke an verkörpertes, einverleibtes, informiertes, verdautes Wissen, vielleicht auch an trainiertes oder instinktives Wissen. Es ist noch nicht definit, aber es steht nicht automatisch in Opposition zum Diskursiven. Das materielle Wissen meint eine Form, welche eben in anderer Weise gegeben ist und sich auch anders manifestiert, ohne deshalb notwendig außerhalb des Diskursiven zu stehen. Vielleicht taucht es sogar im Tanz wieder auf und all den Ansätzen, den Körper als Agens einer Einordnung in die Welt und ihre Zusammenhänge, aber auch als Basis einer Innenschau zu setzen – in Befindlichkeitstheorien und Heilkonzepten.

Kann man aber ins Jenseits gelangen? Das wäre wohl eine der Hauptaufgaben: Das Jenseits des Diskurses ausfindig machen, ohne es zu zerstören. Ist vielleicht die Wissenskulturendebatte eine neue Rousseau’sche Sehnsucht nach dem Urzustand? Eine Anwandlung von Überdruss, aus der heraus man sich ein neues Primitivien konstruiert, und sei es auch nur am Genfer See oder eben an der Spree?

Insofern also ist man vom Tanz weit entfernt, auch wenn ich Deine Formulierung sehr schön finde, Tanz sei die Antwort des Potenziellen. Ob Manchev dabei richtig aufgefasst ist, weiß ich gar nicht. Sein dazugehöriger Text zielt darauf ab, von Konzepten des Statischen bei der Körperdebatte Abschied zu nehmen und nicht mehr von einer unwandelbaren Natur zu sprechen, auf die der Körper immer verweist, sondern im Gegenteil auf die Transformation als kategorialer Bedingung. Der Körper ist, weil er sich verändert, weil er eben nicht der Urgrund, sondern eher sein eigenes Ziel ist. Dieses Ziel aber ist eben niemals habhaft zu machen, weil es nur in der fortwährenden Fortbewegung liegt. Insofern wäre der Tanz bei Manchev nicht die Antwort des Potenziellen, sondern das Ansichtig-Werden des Prozesses als der Begegnung von Wesen (Veränderung) und Erscheinung (So-Sein). Da liegt dann vielleicht die Singularität verborgen (oder legt sie sich offen?), in diesem Moment der Einmaligkeit, welche die tänzerische Bewegung immer markiert.

Das mit der Differenz ist ein weiterer spannender Punkt. Jedenfalls ist Differenz einerseits unabdingbar (Irigaray), um „voranzukommen“, sie ist andererseits ein billiges Distinktionsmerkmal. Differenz setzt die Unterschiedenheit und verweist damit auf ein Substanziales. Wenn Differenz ist, müsste auch Unterschied im Wesen sein. Wenn aber Überbrückung stattfindet, was ist dann mit der Differenz? War sie dann nur imaginär? Oder bewirkt die Differenz erst die Möglichkeit zur Gleichheit? Sind Differenz und Gleichheit komplementär oder totalitär? Ist die Produktion von Wissen die Herstellung von Differenz oder die Setzung von Identität? Wird Übereinstimmung im Wissen angestrebt oder Differenz im Transfer? Und wie lässt sich das nachprüfen? Ist Wissen quantifizierbar? Ist ein Unterschied in der Quantität auch ein Unterschied in der Qualität von Wissen? Ist ein Mehr an Wissen automatisch besser als ein weniger? Mit solchen Fragen kommt man wieder an den Anfang zurück: Wird die gegenwärtige Wissensdebatte eigentlich geführt, um sich dem „Abenteuer der Erkenntnis“ auszusetzen, oder wird sie geführt, um die „arrogance of small difference“ (hey, look, my knowledge is more physical than yours) zu bekräftigen?

Peter Stamer: Ich muss bemerken, dass ich Körper nicht als nicht-ästhetisch gefasst denken kann. Der Ausgangspunkt meiner Fragestellung, nochmal, ist jene Leistung, die man durchaus als Übersetzung von Praxis in den Diskurs der Theorie bezeichnen kann. Mich interessiert originär Wissensproduktion als Herausforderung an die Verspannung von Denken/Reden und Sehen/Wahrnehmen, damit eine bereits ästhetisch gerahmte Aisthesis. Das Spannende ist nun, dass sich diese Fragestellung im Umgang mit den verschiedenen Beiträgen öffnet in allgemeine Fragestellungen, die u.a. anthropologische Gedanken berühren. Jedenfalls sehe ich Deinen Plessner-Hinweis vor diesem Hintergrund, dass die Exzentrizität des Körpers in unserer Kultur, wie sie sich in der Kulturform Theater zeigt, ein Ansatz sein könnte, um die Debatte um Wissen und Körper von dieser Seite aufzuziehen. Du schreibst ja, dass dieses Denken über tanzästhetische Fragestellungen hinausgeht. Könnte man Plessner als einen Versuch bezeichnen, jene bereits angesprochene Singularität, das Singuläre des Exzentrischen, das Exzentrische des Singulären philosophisch fassen zu können? Der Körper bleibt außerhalb, und ist doch Teil des Wissens.

Ist der Mangel bei Diderot dem Noch-nicht geschuldet, Mangel also ein Fehlen, so scheint Plessner, Mangel als den Motor von Wissen zu bezeichnen, welches nicht vom Fehlen geprägt wird, sondern von einer komplementären Abwesenheit, welche den Körper als diskursiv Abwesendes (?) in Anschlag bringt. Der eine beschreibt, wenn ich das richtig interpretiere, einen Mangel von Wissen, Plessner hingegen einen Mangel zu Wissen. Hier vielleicht bereits in dem vers, dem zu, onto, wie es uns schon einmal beschäftigt hat.

Wir haben bis jetzt auf einen sehr unscharfen Wissensbegriff rekurriert; mein Ausgangspunkt jedoch bildet ein Wissensbegriff, der eigentlich kaum um seine Diskursivität herum kommen kann. Das schließt, und dies als Fußnote, auch ein, dass wir dauernd Referenzen ins Spiel führen. Unterm (Seiten-)Strich stehen also Namen, mit welchen wir unser Denken assoziieren, wenn nicht identifizieren, weil wir unser Wissen vom Kopf auf die Füße stellen wollen. Ich glaube tatsächlich, dass es kein Wissen gibt, dass nicht diskursiv ist. Ich kann mich, hier die Fußnote meines Diskurses, auf Foucault beziehen, hier in einer Zusammenfassung von Stuart Hall: „Discourse is about the production of knowledge through language. But […] since all social practices entail meaning, and meanings shape and influence what we do – our conduct – all practices have a discursive aspect.“

Ich finde vor allen Dingen den zweiten Satz wichtig. Er sagt nicht, dass die nicht-diskursiven Praktiken vor dem Diskurs wären, sondern bereits von ihm durchdrungen sind. Sie sind bereits bedeutend im Moment, in welchem sie auf Diskurse treffen, wenn man so will. Prädiskursives Wissen wäre damit, als Extension, bereits von Diskursen informiert. Obzwar ich durchaus bereit wäre, Differenzen markieren zu wollen zwischen dem prädiskursiven und diskursiven Wissen, wäre die Markierung aber diskursiv zu treffen. Dass der Prätext als ‚pretexte‘ von der Existenz nicht-diskursiven Wissens aufgefasst werden kann, möchte ich damit aber ausschließen.

Insofern wäre das Projekt der Untersuchung von Wissensproduktion eines, das die Bedingungsgefüge, ihre Wirkungsfelder, die diskursive Formation, in welchen die Frage der Wissensproduktion gerade auftaucht, untersucht. Das materielle Wissen, das uns gerade umzutreiben scheint, ist dabei eine Spielform des Diskursiven. Darin versuchen wir vielleicht, das Andere nicht bereits als Anderes zu rahmen, sondern dieses ‚als‘ zu eliminieren, das Propositionale zu dimmen.

Dieser Text entstand anlässlich des dreitägigen Research Labors Sans Papiers, das während des Tanzkongresses 2016 im Haus der Kulturen der Welt unter der Leitung von Peter Stamer Fragen zur Produktion von Wissen im Zeitgenössischen Tanz behandelte. Christine Standfest, Karin Knorr Cetina, Christina Thurner, Tino Sehgal, Franz Anton Cramer und Peter Stamer diskutierten die epistemologischen Grundlagen und diskursiven Bedingungen, unter welchen die anderen Kongressmodule Wissen schaffen und präsentieren sollten.

Eine Version des Textes wurde publiziert in: Gehm, Husemann, von Wilcke (ed.): Wissen in Bewegung: Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz. transcript 2007.